Leszczynski: EMF soll als Kokarzinogen überführt werden (Forschung)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 28.08.2016, 17:46 (vor 3037 Tagen)

Der finnische Wissenschaftler Dariusz Leszczynski verlässt in jüngster Zeit häufiger den Elfenbeinturm seines Blogs und schreibt in Fachmedien zum Thema Elektrosmog oder lässt sich dazu interviewen. So kommt es, dass Dariusz am 24. August in der Publikation Medscape Medical News als Experte in einem Artikel (Do Cell Phones Cause Cancer? Maybe Yes and No) der Autorin Roxanne Nelson zu Wort kommt. Jeder kann den Artikel in dieser Fachzeitschrift für Mediziner unentgeltlich lesen, es ist allerdings zuvor eine Registrierung erforderlich.

Grau statt schwarz oder weiß
Dariusz vertritt darin die These, die Antwort auf die im Titel gestellte Frage, ob Handys Krebs verursachen könnten, sei nicht ja oder nein, sondern irgendwo dazwischen. Dies würde auch die wechselweisen Ergebnisse der Forschung erklären. Unumstritten ist Leszczynskis Mittelweg indes nicht, zwei von dem Fachmedium befragte andere Experten gaben sich nicht überzeugt. Tatsächlich wird erst im weiteren Verlauf des Artikels klar, worauf Dariusz hinaus will.

Die IARC-EMF-Arbeitsgruppe hätte 2011 den Befund nahe gelegt, die Emission von Handys allein könne keinen Krebs verursachen, doch könne sie kokarzinogene Eigenschaften haben. Fünf Studien, so Dariusz, hätten gezeigt, Mobilfunkstrahlung fördere im Tierversuch die Entwicklung von Krebs, bekämen die Tiere zugleich in schwacher Dosierung ein chemisches Karzinogen verabreicht.

Kokarzinogen: Schlüssel zur Lösung der Mobilfunkfrage?
Die Idee der Kokarzinogenität sei nicht brandneu, sie geistere schon seit einigen Jahren herum, sagte der Finne, neu sei jedoch der Ansatz, die Kokarzinogenität dahingehend zu betrachten, dass sie die gegensätzlichen Ansichten zum Krebspotenzial von Mobilfunk miteinander versöhnen könne, weil möglicherweise beide Ansichten richtig seien.

Eine der Tierstudien, die Dariusz erwähnte, sei kürzlich repliziert worden und bestätige die kokarzinogene Wirkung der Handystrahlung schreibt Autorin Nelson und nennt als Quelle: Biochem Biophys Res Commun. 2015 Apr 17;459:585-90. Bei dieser Studie handelt es sich um Alexander Lerchls jüngste Mäusestudie, die 2015 viel Aufsehen erregte und die Disskussion um eine kokarzinogene Wirkung von EMF neu entfachte.

Warum Menschen kein Karzinogen gespritzt werden muss
Aus Sicht von Leszczynski gibt es bislang viel zu wenig Forschung zu einer möglichen kokarzinogenen Wirkung von EMF. Dies sieht er als großes Problem, das eine ordentliche Risikoabschätzung nicht zulasse. Tierstudien mit Ratten und Mäusen seien schön und gut, um sicher zu gehen, seien jedoch Studien am Menschen erforderlich. Dazu müssten Forscher Probanden gar nicht erst karzinogene (krebsauslösende) Substanzen verabreichen, denn viele würden diese Substanzen ohnehin freiwillig zu sich nehmen.

Zwei bekannte Karzinogene für Menschen seien Tabakrauchen und UV-Strahlung. Millionen Menschen setzen sich diesen einzeln oder sogar beiden aus. Dariusz fordert deshalb epidemiologische Studien, bei denen Tabakrauchen und UV-Bestrahlung in Zusammenhang mit Handystrahlung gesehen werden, ein aus meiner Sicht frappierend plausibler Vorschlag, den jeder abnicken kann. Sogar eingefleischte Mobilfunkgegner, obwohl Leszczynski eindeutig von Handystrahlung redet und nicht die hierzulande bei unseriösen Mobilfunkgegnern so beliebte Vertuschungsworthülse "Mobilfunkstrahlung" gebraucht, die gezielt Verwechslungen zwischen der Strahlung von Sendemast und Handy provoziert.

Tabakkonsum und UV-Einwirkung lassen sich ziemlich genau bestimmen, sagt Dariusz, die Bestimmung der Funkfeldexposition hingegen sei ein Problem. Eine denkbare Lösung sieht er in Smartphone-Apps für die körperbezogene Strahlungsmessung. Solche Apps seien bereits verfügbar, z.B. von der finnischen Firma Cellraid, oder würden momentan entwickelt.

Tumorpromotion vs. Kokarzinogen
Doch ganz so einfach wie es scheint ist die Sache mit dem Kokarzinogen nicht. So legt Alexander Lerchl, auf dessen jüngste Studie sich auch Dariusz Leszczynski stützt, wert auf die Feststellung, er habe in seiner Studie das Wort kokarzinogen/cocarcinogen überhaupt nicht gebraucht, er spreche allein von "Tumorpromotion". Weil Laien wie mir die Bedeutung dieser Differenzierung nicht klar war, fragte ich im IZgMF-Forum bei Lerchl nach und bekam zur Antwort:

Eine kokarzinogene Substanz kann ein Tumorpromotor sein, muss aber nicht. Umgekehrt kann ein Tumorpromotor durchaus KEIN Kokanzerogen sein. Was wir gezeigt haben, ist dass EMF dazu geführt hat, dass mehr Tiere mit Tumoren gezählt wurden. Wir können aber nicht sagen, dass EMF die KrebsENTSTEHUNG (und das wäre kokarzinogen) BEGÜNSTIGT hat.

Das ist ganz schön verzwickt und scheinbar widersprüchlich bezieht man das, was in Klammern geschrieben steht auf KrebsENTSTEHUNG, statt wie beabsichtigt auf BEGÜNSTIGT.

Ich habe Lerchls Auskunft seinerzeit so verstanden: EMF begünstigt nicht die Entstehung von Krebs, wirkt auf einen vorhanden Krebs jedoch wie ein Beschleuniger.

Da in dem Artikel mit Dariusz die Bedeutung von "kokarzinogen" jedoch nicht explizit erklärt wird, hier noch einmal die Gegenüberstellung aus dem IZgMF-Beitrag zu Prof. Lerchls Krebsstudie:

Ein Karzinogen ist eine Substanz oder eine physikalische Größe (z.B. Strahlung), die krebsauslösend ist. Im Gegensatz dazu ist ein Kokarzinogen eine Substanz oder eine physikalische Größe (z.B. Funkfeld), die selbst nicht krebsauslösend ist, die jedoch die Wirkung einer krebsauslösenden physikalischen Größe oder Substanz verstärkt. Salopp gesagt ist ein Kokarzinogen ein Krebsbeschleuniger, der Fachbegriff dafür lautet Tumorpromotion.

Was, wenn EMF tatsächlich kokarzinogen wäre?
Was kann also schlimmstenfalls passieren, wenn epidemiologische Studien mit Tabak, UV (beide kanzerogen) und EMF (kokanzerogen) als Einwirkgrößen, EMF tatsächlich als Tumorbeschleuniger identifizieren? Dann dürfte die Stunde der mehr oder weniger seriösen "Funklochkliniken" geschlagen haben, in deren EMF-geschirmten Räumen Krebspatienten auf Heilung hoffen. Ob sich mehr tun wird, sollte davon abhängen, in welchem Ausmaß EMF auf Krebse wirkt, ob z.B. alle Raucher betroffen sind oder nur ein Teil und wie stark die Betroffenheit ist. Da EMF als Kokarzinogen jedoch nicht die Anzahl der Krebskranken erhöht, sondern nur die Auspägung eines anderweitig entstandenen Krebses, wird die Bevölkerung vermutlich gelassen reagieren, noch gelassener als auf die Erkenntnis, dass Rauchen den Tod durch Lungenkrebs bringen kann. Die Rolle eines Beschleunigers ist gegenüber der Rolle eines Verursachers bescheiden, die Leute werden sich davon kaum ihr Smartphone abspenstig machen lassen. So gesehen teile ich Dariusz' Standpunkt nicht, die Identifikation von EMF als Kokarzinogen sei ein entscheidender Fortschritt in der Risikobeurteilung von EMF. Der Fortschritt wäre aus meiner Sicht nicht-substanziell von eher akademischem Interesse.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Forschung, Ablenkung, Tabak, Tierversuch, Leszczynski, Cellraid, Karzinogen

BfS lässt Kokarzinogenität von EMF weiter erforschen

H. Lamarr @, München, Sonntag, 28.08.2016, 19:36 (vor 3037 Tagen) @ H. Lamarr

Eine der Tierstudien, die Dariusz erwähnte, sei kürzlich repliziert worden und bestätige die kokarzinogene Wirkung der Handystrahlung schreibt Autorin Nelson und nennt als Quelle: Biochem Biophys Res Commun. 2015 Apr 17;459:585-90. Bei dieser Studie handelt es sich um Alexander Lerchls jüngste Mäusestudie, die 2015 viel Aufsehen erregte und die Diskussion um eine kokarzinogene Wirkung von EMF neu entfachte.

Die vom Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) beauftragte Nachfolgestudie zu Lerchl et al., 2015, läuft seit Anfang 2016 und wird voraussichtlich im März 2017 abgeschlossen sein. In der Ausschreibung schrieb das BfS im September 2015:

Bisher haben zwei Studien (Tillmann 2010, Lerchl et al. 2015) bei Mäusen der Linie B6C3F1 übereinstimmend nach Behandlung mit dem Tumorinitiator Ethylnitrosoharnstoff (ENU) unter Exposition mit elektromagnetischen Feldern des UMTS Standards eine erhöhte Tumorrate in Lunge und Leber festgestellt. Ein Wirkmechanismus, der zu diesen Ergebnissen führen könnte, ist unbekannt.

Es ist unklar, ob EMF die Wirkung von ENU verstärkt (Kokarzinogenität) oder ob ENU unabhängig von EMF Tumore verursacht, die dann später durch EMF in ihrem Wachstum gefördert werden (Tumorpromotion). Eine Nachfolgestudie soll beide Prozesse trennen und vorerst klären, ob EMF die Aufnahme und/oder Wirkung des Kanzerogens (ENU) in utero fördert. Dafür sollen trächtige weibliche Mäuse wie in den beiden vorangegangenen Studien in einem engen Zeitfenster vor und nach der Verabreichung von ENU mit den Expositionsintensitäten 0,04 W/kg und 0,4 W/kg exponiert sowie scheinexponiert werden. Die Temperatur und der metabolische Umsatz der Tiere sollen während der Exposition kontrolliert werden.

Die Aufnahme von ENU im Gewebe der Föten sowie der Verlauf der Reparaturprozesse sollen innerhalb der ersten 24 - 48 Stunden nach der Gabe von ENU untersucht werden. Die Wirksamkeit von ENU soll im Gehirn, Leber und Lunge der Föten anhand der DNA-Schädigung organspezifisch quantitativ bestimmt werden.

Die Nachfolgestudie soll am 1. Januar 2016 starten, die Laufzeit ist auf 15 Monate veranschlagt.

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