Typischer Mobilfunk-Alarmstudie auf den Zahn gefühlt (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Donnerstag, 30.08.2012, 21:06 (vor 4497 Tagen)

Wenn eine frische Mobilfunkstudie publiziert wird, passiert in der organisierten Anti-Mobilfunk-Szene in aller Regel folgendes: Die Studie wird auf Alarmtauglichkeit geprüft, und bei positivem Befund mehr oder weniger aufwendig als "Alarmstudie" für die Anti-Mobilfunk-Szene präpariert. Der aus Berlin kommende Elektrosmog-Report lebt von solchen Präparationen. Er stellt regelmäßig Alarmstudien vor, schwierig ist das nicht, es wird lediglich der meist englische Originaltext übersetzt und deutlich gekürzt. Eine kritische inhaltliche Auseinandersetzung, z.B. mit der häufig komplexen Dosimetrie, liegt nicht im Interesse des Blättchens, sie findet daher nicht statt. Die Folge: Fehlerhafte englischsprachige Studien werden bei diesem Vorgehen 1:1 fehlerhaft in deutsch weiter in Umlauf gebracht.

Jüngstes Beispiel: Die Titelstory des Elektrosmog-Reports Ausgabe August 2012 schlägt folgendermaßen Alarm: "900-MHz-Strahlung erzeugt ROS und Apoptose in Blutzellen", was immer das auch heißen mag. Keine Sorge, die reaktiven Sauerstoffmoleküle sind nicht Thema dieses Postings, es geht um altbekanntes, die lieben Grenzwerte.

In dem Artikel wird die Exposition dem Leser folgendermaßen nahe gebracht:

[...] Dafür wurden frische Primärzellen von freiwilligen Erwachsenen [sic!] (25,3 ± 0,8 Jahre) 1,2,4,6 und 8 Stunden 0,4 W/kg ausgesetzt (Intensitäten, denen Menschen in 20 m Entfernung von einer Mobilfunk-Basistation oder beruflich an Funk- und Radararbeitsplätzen ausgesetzt sein können).

Das Deutsch holpert zwar wie ein Eselskarren auf einem albanischen Schmugglerpfad, aber man versteht, was vermittelt werden soll.

Stopp, moment mal! Was steht da? In 20 m Entfernung sollen Menschen dem Funkfeld einer Mobilfunk-Basisstation 0,4 W/kg Leistung entziehen?

Jetzt hätte es eigentlich bei der Redakteurin des Elektrosmog-Reports g'schnaggelt haben müssen, denn der Ganzkörpergrenzwert für die Zivilbevölkerung lautet bekanntlich 0,08 W/kg.

Die englische Originalpassage aus dem frei verfügbaren Volltext der Studie zeigt, die kühne Behauptung (0,4 W/kg in 20 m Entfernung) steht bereits im Original so drin:

In this study, isolated fresh human peripheral blood mononuclear cells were exposed to the radiation of 900MHz GSM RFEMF at a specific absorption rate (SAR) of 0.4 W/kg for 1 h, 2 h, 4 h, 6 h, and 8 h. The specific absorption rate was chosen to mimic the situation that people usually may absorb in an environment within a distance of 20 meters from mobile phone relay stations, or occupationally in an equipment room of microwave communication, or around a surveillance radar [15–17]. It is also the occupational exposure restriction suggested by the International Commissionon Non-ionizing Radiation Protection and some national radiological protection boards [18, 19]

Und nun?

Das IZgMF hat zwei Experten befragt, was von der 0,4-W/kg-in-20-m-Entfernung-Behauptung zu halten ist. Was dabei herauskam, zeigen die beiden Folgepostings. Die Experten sind die Biologin Dr. G. Ratto (Pseudonym) und der Dosimetriesachverständige Dr. C. Bornkessel.

Hintergrund
Die richtige Dosimetrie: Achillesferse von Mobilfunkstudien

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
SAR, Alarmschläger, Elektrosmog-Report, Zivilbevölkerung, Absorption

Mobilfunk-Alarmstudie: Kommentar von Dr. Ratto

Gast, Donnerstag, 30.08.2012, 21:33 (vor 4497 Tagen) @ H. Lamarr

Es stimmt was die sagen, die beziehen sich auf Grenzwerte (Ganzkörper) für beruflich Exponierte! Dieser Grenzwert wird natürlich nur innerhalb des Sicherheitsabstandes erreicht, der meistens kleiner als 20 m ist.

In Wirklichkeit haben die Autoren der Studie aber isoliertes Blut exponiert, also weder Ganz- noch Teilkörper, sondern in vitro. Das ist natürlich nicht 1 zu 1 übertragbar.

Diese Studie hat noch ganz andere Macken:

  • Das Gerät mit dem angeblich exponiert wurde habe ich auf der Homepage der angegebenen Firma nicht gefunden. Eine Expositionseinrichtung war es wohl nicht.
  • Die SAR wurde aus der anscheinend in Luft gemessener Feldstärke berechnet und nicht modelliert (z.B. mit SEMCAD).
  • Es gab anscheinend eine Kontrolle, aber keine Scheinexposition und Verblindung.
  • Ob die Kontrolle gleichzeitig und für alle Proben mitgezogen wurde ist nicht angegeben.

Das Ganze scheint mir langsames Sterben von Blutzellen anzuzeigen, das mit oder ohne Exposition stattfindet. Wie groß der Unterschied zur Kontrolle tatsächlich war kann ich aus diesen Daten nicht beurteilen. Allerdings habe ich die Daten nur im Schnellverfahren überflogen und oxidativer Stress ist nicht mein Spezialgebiet.

Diese Studie ist wieder eines dieser Papers, die nie durch das Peer-Review-Verfahren hätten kommen dürfen. Die Gutachter sind Biologen, die zwar von oxidativem Stress mehr verstehen als ich, aber eben nichts von EMF.

Die Zeitschrift, in der die Arbeit publiziert wurde, ist kein Highlight, aber immerhin peer-reviewed. Der Impact-Faktor des Blatts erreicht 2,83. Kein ganz so schlechter Wert, wenn auch weniger als Bioelectromagnetics hat.

Tags:
Sicherheitsabstand

Mobilfunk-Alarmstudie: Expositionseinrichtung gefunden

H. Lamarr @, München, Donnerstag, 30.08.2012, 22:01 (vor 4497 Tagen) @ Gast

Das Gerät mit dem angeblich exponiert wurde habe ich auf der Homepage der angegebenen Firma nicht gefunden. Eine Expositionseinrichtung war es wohl nicht.

Folgendes Foto zeigt die "Expositionseinrichtung", sieht nicht gerade eben professionell aus:

[image]

Weitere lesenswerte Details :lookaround: zu dieser Expositionseinrichtung, die aussieht wie ein Multiband-Jammer, gibt es auf dieser Website.

[Admin: Am 31.08.12, 9:42 Uhr editiert (Bildlink), damit auch Teilnehmer "hans" die Verstofflichung der Expositionseinrichtung gebührend bewundern darf]

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– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Mobilfunk-Alarmstudie: Kommentar von Dr. Bornkessel

Gast, Donnerstag, 30.08.2012, 21:48 (vor 4497 Tagen) @ H. Lamarr

Am gestrigen Tage habe ich mir das Papier zu Gemüte geführt.

Eine Einschätzung der Dosimetrie ist – wie bereits beim letzten Mal – sehr schwierig bzw. fundiert nicht möglich, da die Beschreibung der Expositionsapparatur viel zu kurz kommt.

Es ergeben sich einige Fragen zu Aspekten, die meiner Meinung nach in einen solchen Beitrag einfach hineingehören. Dies sind insbesondere:

  • Beschreibung des „VS401A RF RFEMF Emitters“ fehlt: Ausgangsleistung? Signalcharakteristika?
  • Wie erfolgte die Ankopplung des RFEMF Emitters an die Zellproben? Antenne? Wenn ja, welcher Abstand? Wellenleiter?
  • Beleg für die Behauptung, dass die Strahlung im Bereich der Proben uniform war: Verteilungsdiagramme über dem Probenquerschnitt oder Zahlenangaben. Üblicherweise hat man hier häufig das „Meniskus“-Problem, d.h. Inhomogenitäten an den Rändern der Kulturschalen.
  • Wie wurde die Feldstärke von 43,42 V/m gemessen? Mit einer Miniatursonde (Typ und Hersteller)? In der Probe oder außerhalb? Eine Messung in der Probe ist obligatorisch, da sonst die SAR-Berechnung über die angegebene Formel nicht stimmt (in manchen anderen Veröffentlichungen wird von den Autoren tatsächlich fälschlicherweise die Freiraum-Feldstärke für die SAR-Berechnung herangezogen).
  • Wie wurde die Leitfähigkeit bestimmt (Art der Messung)? Andere Publikationen (z.B. DMF: „Untersuchungen zu der Fragestellung, ob makroskopische dielektrische Gewebeeigenschaften auch auf Zellebene bzw. im subzellulären Bereich uneingeschränkte Gültigkeit besitzen“) kommen bei Blut (900 MHz) auf Werte zwischen 1 und 2 S/m – wie lässt sich der Unterschied erklären?
  • Mittlerweile gehört es zum Stand der Technik, dass die SAR-Verteilung in den Proben mit Hilfe numerischer Verfahren berechnet wird.

Darüber hinaus lässt sich eigentlich nur feststellen, dass die Autoren mit der Behauptung, 0,4 W/kg sei ein charakteristischer Wert für die persönliche Absorption in einer Umgebung von 20 m um eine Mobilfunk-Basisstation, etwas vergallopiert haben. Mehr lässt sich aber aus dem Papier bezüglich einer Einschätzung der Dosimetrie leider nicht herausziehen.

Tags:
Bornkessel, Experte

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