Basisdemokratie: Die große Illusion (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Dienstag, 13.12.2011, 13:03 (vor 4511 Tagen)

"Für den Erfolg einer Volksabstimmung bedarf es manchmal nur breiten Desinteresses", heißt es in einem Essay von Heinrich August Winkler über die Illusion einer gut funktionierenden Basisdemokratie. Nachfolgend ein Auszug aus diesem Werk. Den Zusammenhang zum Forenthema sehe ich darin, dass organisierte (vernetzte) Mobilfunkgegner nur zu gerne die typischen Schwächen einer basisdemokatischen Entscheidungsfindung (nach SPD-Vorstellung) nutzen würden, um "ihr Ding" gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit durch zu bringen. Das "breite Desinteresse" haben sich die Gegner ja schon mal erarbeitet. Und wäre "das Ding" eine ehrliche und gute Sache, ich hätte nicht mal was dagegen, so aber ...

"Nicht um die parlamentarische Demokratie zu ersetzen, sondern um sie zu ergänzen, verlangen Sozialdemokraten und Grüne seit langem plebiszitäre Elemente auch auf Bundesebene. Der jüngste Vorstoß stammt vom SPD-Vorstand. Der Bundesparteitag im Dezember soll einem Antrag zustimmen, wonach auf dem Weg der Volksgesetzgebung ein Gesetz angenommen ist, wenn die Mehrheit der Abstimmenden zustimmt und mindestens ein Fünftel der Stimmberechtigten sich an der Abstimmung beteiligt. Im Klartext heißt das: Gegebenenfalls kann ein Zehntel der stimmberechtigten Bundesbürger ein Gesetz verabschieden. Dieser Fall tritt dann ein, wenn die Beteiligung nicht höher liegt als unbedingt erforderlich und die Zahl der Ja-Stimmen die der Nein-Stimmen knapp überwiegt.

Ob die SPD damit zu „mehr Demokratie“ im Sinne Willy Brandts beiträgt, ist zweifelhaft. Wer ein so niedriges Quorum ansetzt wie der sozialdemokratische Parteivorstand bei bundesweiten Plebisziten (und analog nunmehr auch bei Mitgliederbegehren und Mitgliederentscheiden), der beschwört die Gefahr herauf, dass hochmotivierte, besonders gut vernetzte privilegierte Minderheiten sehr viel mehr Einfluss auf die Politik bekommen als bisher. Um Erfolg zu haben, bedürfen die Initiatoren einer Volksabstimmung manchmal nur des Desinteresses der breiten Mehrheit. Das Beispiel des Hamburger Volksentscheids von 2010, als eine von der schwarzgrünen Koalition beschlossene Schulreform gekippt wurde, hätte der SPD zu denken geben müssen.

Es ist eine offenbar unausrottbare Illusion der demokratischen Linken, dass mehr direkte Demokratie mehr Fortschritt und mehr Gleichheit bewirke. Vermutlich würde ein systematischer Vergleich den Befund zutage fördern, dass es in der Geschichte mehr „reaktionäre“ als „progressive“ Plebiszite gegeben hat. Das Nein zur Schwulenehe in Kalifornien beruhte 2008 auf einer Wählermehrheit, die unter anderem von Mitgliedern der Mormonenkirche mit Millionenbeträgen mobilisiert worden war. Den erfolgreichen Schweizer Volksentscheid gegen den Bau von Minaretten organisierte 2009 die Schweizerische Volkspartei des Milliardärs Christoph Blocher. Das Nein beim ersten irischen Volksentscheid über den Lissabon-Vertrag ging 2008 zum größten Teil im Wortsinn auf das Konto des Multimillionärs Declan Ganley. Als Ende Mai 2005 im Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich das „Non“ obsiegte, war dies das gemeinsame Werk einer heterogenen, zur parlamentarischen Zusammenarbeit unfähigen Adhoc-Koalition, die von der extremen Rechten um Jean-Marie Le Pen bis zu den Kommunisten reichte."

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Desinteresse, Volksabstimmung, SPD, Basisdemokratie


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