Das Sisi-Syndrom: Big-Pharma und die Mikrowelle (Elektrosensibilität)
Die mutmaßlichen Rollen von Small-Baubiologie, Small-Low-Cost-EMF-Messtechnik, Small-Esoterikkram und Big-Tobacco haben wir hier im Forum ja nun schon öfter am Wickel gehabt. Big-Pharma ist dagegen als Akteur in der Elektrosmogdebatte so gut wie nicht präsent. Wie sollten die Pillendreher denn auch, haben Sie doch augenscheinlich mit Elektrosmog nichts am Hut.
Der Schein könnte indes trügen, denn mit einem Mikrowellensyndrom oder mit EHS als Volkskrankheit ließe sich mit Sicherheit viel Geld verdienen. Dies gälte selbst dann, wenn es dieses Syndrom und EHS objektiv gesehen überhaupt nicht gäbe und es nur eine Erfindung wäre. Glauben Sie nicht? Klar, hätte ich, bis mir heute Heft 20/2011 des "Spiegel" in die Hände fiel, auch nicht geglaubt. In dieser Ausgabe steht der Beitrag Seelsorge für die Industrie von Jörg Blech. Darin geht es um den Einfluss der Pharmakonzerne auf die Elite der deutschen Nervenheilkunde. Die folgende Textpassage aus dem Beitrag könnte nun meiner Meinung nach gut und gerne auch für das "Mikrowellensyndrom" gelten, das von einer deutschen Ärztin aus Bamberg 2005 erfunden wurde. Tatsächlich aber geht es um etwas anderes, nämlich um das Sisi-Syndrom:
Das Sisi-Syndrom
Pharmafirmen setzen Meinungsbildner nicht nur ein, um Werbung für ihre Pillen zu machen, sondern auch, um Krankheiten zu vermarkten, die es oft gar nicht gibt. Mitarbeiter der Firma SmithKline Beecham in München etwa kamen auf die Idee, das Sisi-Syndrom zu erfinden: eine angebliche Depression, an der schon die österreichische Kaiserin Elisabeth ("Sisi", 1837 bis 1898) gelitten habe. Nur sei das Leiden sehr schwer zu diagnostizieren, weil die betroffenen Frauen es mit Frohsinn und Zufriedenheit überspielten.
Praktischerweise hatten die Krankheitserfinder ein passendes Mittel im Angebot gegen das Leiden, eine Tablette namens Seroxat. Jetzt musste bloß noch die Nachfrage geweckt werden - nur wer sollte das Sisi-Syndrom im Volk bekannt machen?
Anke Rohde, Leiterin des Bereichs Gynäkologische Psychosomatik des Universitätsklinikums Bonn, erklärte sich bereit, behilflich zu sein. Im August 1998 flog sie von Frankfurt nach Mallorca und sprach auf einem "Forum" zum Sisi-Syndrom, das SmithKline Beecham im Castillo Hotel Son Vida in Palma veranstaltete.
Gegen ein stattliches Honorar berichtete Rohde von psychopathologischen Untersuchungen des angeblichen Syndroms. Ihre Auftraggeber waren angetan, zwei Monate später durfte sie wieder ran. Auf einer von der Pharmafirma veranstalteten Pressekonferenz im Hotel Sacher Wien sprach Rohde über "Kaiserin Elisabeth (Sisi) als Prototyp eines verkannten Patientenbildes".
Im Vergleich zum Sisi-Syndrom sehe ich für das Mikrowellensyndrom noch erheblich bessere Vermarktungschanchen, denn Bürgerinitiativen und überzeugte EHS sind ebenso eifrige wie preisgünstige Heger und Pfleger einer Graswurzelbewegung, die mittelfristig zur gesellschaftlichen Akzeptanz des Mikrowellensyndroms führen könnte. Erste klinische Mittel gegen die Folgen des Mikrowellensyndroms sind im kleinen Kreis der Szene seit längerem bekannt, etwa die Redoxanalyse mit anschließender individueller Nahrungsmittelergänzung nach Dr. Heinrich, Rostock, oder die Zeolith-Empfehlung von Prof. Karl Hecht, Berlin. Beide haben mit Big-P. augenscheinlich nichts zu tun, die Umsätze dürften auch eher bescheiden sein. Dies sollte jedoch kein Grund sein, diesbezüglich breiter aufgestellte Begehrlichkeiten von Big-P. grundsätzlich auszuschließen oder als blanke Verschwörungsthese einzutüten. Ich meine es lohnt sich die Augen auf zu halten und z.B. "eigentümliche" politische Aktivitäten, etwa die Forderung zur Ausweisung von EHS-Schutzzonen, auch unter dem Gesichtspunkt einer "flankierenden Maßnahme" für die breite Akzeptanz des erfundenen Mikrowellensyndroms zu sehen.
Hintergrund
Sisy-Syndrom bei Wikipedia
Über diese "Helferseite" mag sich jeder selbst ein Urteil bilden
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –