Kochende Spermien? (Forschung)

Alexander Lerchl @, Dienstag, 01.02.2011, 15:07 (vor 5046 Tagen)

[Stang abgetrennt am 01.02.2011 um 17:31 Uhr hier]

Aus meiner Sicht haben auch die Frage-und-Antwort-Stränge mit Ihnen viel dazu beigetragen, dass in der Mobilfunkdebatte die Stimmen der fanatischen Mobilfunkgegner heute so gut wie keine Rolle mehr spielen, im Vergleich zur Blütezeit der Debatte von 2000 bis 2004. Das alles hat, meine ich, mit zu einer einsetzenden Entspannung beigetragen, was sicherlich ebenfalls positiv zu werten ist.

Danke für die Blumen. Und weil's grad so schön passt, möchte ich ein weiteres kleines Experiment starten. Thema: Wie geht man als kritischer und fachkundiger Leser mit publizierten komischen Daten um? Ich mache das jetzt mal sozusagen online und lasse es das Forum wissen, sobald es etwas Neues gibt.

Hintergrund: Ich habe mehr als 10 Jahre im Institut für Reproduktionsmedizin der Uni Münster gearbeitet, und zwar in der Andrologie ("Männerheilkunde"). Daher ist mir die Diagnostik in diesem Bereich sehr gut vertraut.

Immer wieder werden Effekte von elektromagnetischen Feldern des Mobilfunks auf die Spermienreifung und -funktionen berichtet. Z.B. hat Salama et al. 2008 eine solche Arbeit veröffentlicht, die allerdings eine Reihe von "Besonderheiten" aufwies.

Letztes Jahr wurde eine weitere Arbeit im International Journal of Andrology mit dem Titel "The effect of pulsed 900-MHz GSM mobile phone radiation on the acrosome reaction, head morphometry and zona binding of human spermatozoa" veröffentlicht. Autoren: Falzone N, Huyser C, Becker P, Leszczynski D (ja, genau der), Franken DR. Adresse: Department of Biomedical Sciences, Tshwane University of Technology, Pretoria, South Africa. falzonen@tut.ac.za. Über diese Studie ist vom WIK berichtet worden (Seite 3).

Nun habe ich mal einen Blick auf die Arbeit geworfen - und war ziemlich erstaunt. Es wurden eine Reihe von Parametern in "Samenproben" (Ejakulaten) von 12 Probanden untersucht, nachdem die Proben für 1 Stunde bei SAR = 2 W/kg exponiert wurden. Laut Autoren gab es keine thermischen Effekte. Aber, um es kurz zu machen, die Effekte der Exposition waren verheerend. So waren z.B. die Spermien nach Exposition kleiner und reagierten auch nicht so, wie sie sollten (Akrosom-Reaktion, Zona-Bindung; nur für Spezialisten wichtig). Die Autoren schränkten zwar ein, dass die in-vitro Ergebnisse nicht auf das Geschehen in-vivo zu übertragen sei, solange es keine "zusätzliche Forschung" bzw. "ultimativ epidemiologische Bestätigung" gäbe. Aha. Wieder der schon bekannte Ruf nach mehr Forschung. Das wäre ja durchaus berechtigt, jedenfalls auf den ersten Blick.

Auf den zweiten Blick sieht die Sache schon ganz anders aus. Dazu muss ein klein wenig ausgeholt werden. Für die Beurteilung der Spermien ist neben den Funktionen auch deren Aussehen (Morphologie) wichtig. Dazu zählt auch die Größe des Spermienkopfes, der eiförmig ist. Siehe hier. Heutzutage werden diese Größen computergestützt ermittelt, so auch in der Studie von Falzone et al.. Dazu werden die große und die kleine Achse der Spermienköpfe vermessen.

Die Resultate der Studie waren nun diesbezüglich frappierend. Nach nur 1 Stunde Exposition war die große Achse (im Mittel) von 5,93 auf 3,53 µm geschrumpft (um 40%), und die kleine von 4,45 auf 2,39 µm (um 46%). Mit einer Formel zur Berechnung des Volumens für diese eiförmigen "Rotationsellipsoide" habe ich festgestellt, dass das Volumen der Spermienköpfe um satte 83% abgenommen hat! So etwas habe ich noch nie gelesen, ausser vielleicht nach gründlichem Kochen :-) .

Vorhin habe ich deswegen die Herausgeberin angeschrieben und gefragt, was da zu tun sei. Auf ihre Antwort bin ich schon sehr gespannt.

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"Ein Esoteriker kann in fünf Minuten mehr Unsinn behaupten, als ein Wissenschaftler in seinem ganzen Leben widerlegen kann." Vince Ebert

Tags:
Exposition, Leszczynski, Spermien, Fertilität, Unfruchtbarkeit, Salama, Falzone

Gekochte Spermien?

H. Lamarr @, München, Dienstag, 01.02.2011, 18:12 (vor 5045 Tagen) @ Alexander Lerchl

Kochende Spermien?

Wenn ich das mal in aller Bescheidenheit anmerken darf: Spermien kochen nicht, jedenfalls nicht so wie Tim Melzer, Jamie Oliver, Eckart Witzigmann und Alfons Schuhbeck das machen. In diesem Fall wäre daher eine Passivkonstruktion sprachlich und sachlich vertretbar, der zufolge die Spermien dann eben gekocht werden. Ob Schubeck und die anderen dabei die Finger im Spiel haben weiß ich nicht, ich plädiere jedenfalls für den Betreff "Gekochte Spermien?"

:wink:

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Kochende Spermien?

Kuddel, Dienstag, 01.02.2011, 20:09 (vor 5045 Tagen) @ Alexander Lerchl

Gibt es eigentlich innerhalb der Forschungsgemeinschaft kein "Review" geplanter Versuchsaufbauten vor der Durchführung der Versuche ?

So könnte man sicherlich späteres Herummäkeln an der Validität der Ergebnisse vermeiden.

Kochende Spermien? Update

Alexander Lerchl @, Sonntag, 06.03.2011, 17:11 (vor 5013 Tagen) @ Alexander Lerchl

[Stang abgetrennt am 01.02.2011 um 17:31 Uhr hier]

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Danke für die Blumen. Und weil's grad so schön passt, möchte ich ein weiteres kleines Experiment starten. Thema: Wie geht man als kritischer und fachkundiger Leser mit publizierten komischen Daten um? Ich mache das jetzt mal sozusagen online und lasse es das Forum wissen, sobald es etwas Neues gibt.

Update: Ein Letter im International Journal of Andrology ist zur Publikation angenommen worden (Hintergrund siehe vorheriges Posting).

Da ich schon mal dabei war, habe ich gleich auch noch einen weiteren Artikel der Gruppe angeschaut:
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18163440
Dort werden ebenfalls signifikante schädliche Effekte auf menschliche Spermien beschrieben.
Aus dem Abstract: " ...However, over time, the two kinematic parameters straight line velocity (VSL) and beat-cross frequency (BCF) were significantly impaired (P < 0.05) after the exposure at SAR 5.7 W/kg ..."

Wenn man sich die Daten näher anschaut, fällt auf (und wurde von mir in einem Letter angesprochen):

1) Es wurden keine Verringerung der BCF beobachtet, sondern eine Erhöhung! :no:

2) Der Unterschied im Parameter VCL war mit p=0.05 nicht signifikant! :no:

Auch dieser Letter ist zur Veröffentlichung in Bioelectromagnetics angenommen worden. Man darf gespannt sein, wie die Antworten der Autoren sein werden.

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Kochende Spermien? Update

H. Lamarr @, München, Montag, 07.03.2011, 00:33 (vor 5012 Tagen) @ Alexander Lerchl

Aus dem Abstract: " ...However, over time, the two kinematic parameters straight line velocity (VSL) and beat-cross frequency (BCF) were significantly impaired (P < 0.05) after the exposure at SAR 5.7 W/kg ..."

Wenn man sich die Daten näher anschaut, fällt auf (und wurde von mir in einem Letter angesprochen):

1) Es wurden keine Verringerung der BCF beobachtet, sondern eine Erhöhung! :no:

Und was bedeutet dies nun biologisch?

Heißt das, die Spermien quirlten nach der Befeldung stärker umher, was sich aus meiner laienhaften Sicht vorteilhaft auf deren erfolgreiche Durchquerung des Geburtskanals in der Hin-Richtung auswirken müsste?

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Kochende Spermien? Update

Alexander Lerchl @, Montag, 07.03.2011, 05:31 (vor 5012 Tagen) @ H. Lamarr

Aus dem Abstract: " ...However, over time, the two kinematic parameters straight line velocity (VSL) and beat-cross frequency (BCF) were significantly impaired (P < 0.05) after the exposure at SAR 5.7 W/kg ..."

Wenn man sich die Daten näher anschaut, fällt auf (und wurde von mir in einem Letter angesprochen):

1) Es wurden keine Verringerung der BCF beobachtet, sondern eine Erhöhung! :no:

Und was bedeutet dies nun biologisch?

Heißt das, die Spermien quirlten nach der Befeldung stärker umher, was sich aus meiner laienhaften Sicht vorteilhaft auf deren erfolgreiche Durchquerung des Geburtskanals in der Hin-Richtung auswirken müsste?

Vermutlich bedeutet das gar nichts, die Unterschiede sind sehr gering (leider kann ich die Abbildung nicht hier einstellen).

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Falzone: Werte verwechselt ...

Alexander Lerchl @, Mittwoch, 20.04.2011, 08:42 (vor 4968 Tagen) @ Alexander Lerchl

Da ich schon mal dabei war, habe ich gleich auch noch einen weiteren Artikel der Gruppe angeschaut:
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18163440
Dort werden ebenfalls signifikante schädliche Effekte auf menschliche Spermien beschrieben.
Aus dem Abstract: " ...However, over time, the two kinematic parameters straight line velocity (VSL) and beat-cross frequency (BCF) were significantly impaired (P < 0.05) after the exposure at SAR 5.7 W/kg ..."

Wenn man sich die Daten näher anschaut, fällt auf (und wurde von mir in einem Letter angesprochen):

1) Es wurden keine Verringerung der BCF beobachtet, sondern eine Erhöhung! :no:

2) Der Unterschied im Parameter VCL war mit p=0.05 nicht signifikant! :no:

Auch dieser Letter ist zur Veröffentlichung in Bioelectromagnetics angenommen worden. Man darf gespannt sein, wie die Antworten der Autoren sein werden.

Die Antwort ist erschienen, kostenfrei hier erhältlich.

Frau Falzone schreibt, dass ihr ein Fehler in der Originalpublikation passiert ist. Bei den Werten für BCF (und nur bei diesen!) hat sie die Daten verwechselt. Wegen der anderen Sache hat sie geschrieben, dass der P-Wert 0,047 gewesen sei, also P<0,05.

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Tags:
Falzone

Fehlersucher, ungeliebter

H. Lamarr @, München, Mittwoch, 20.04.2011, 13:27 (vor 4968 Tagen) @ Alexander Lerchl

Die Antwort ist erschienen, kostenfrei hier erhältlich.

Frau Falzone schreibt, dass ihr ein Fehler in der Originalpublikation passiert ist. Bei den Werten für BCF (und nur bei diesen!) hat sie die Daten verwechselt. Wegen der anderen Sache hat sie geschrieben, dass der P-Wert 0,047 gewesen sei, also P<0,05.

Mir ist ehrlich gesagt nicht klar, was dies nun für das Gewicht dieser Studie bedeutet.

Wenn ich das richtig sehe, ist die Richtigstellung auf Ihren Einspruch zurück zu führen. Solche erfolgreichen Einsprüche scheinen mir im Netz-Zeitalter besonders wichtig zu sein, damit sich Fehler nicht ungehemmt bis in die Wohnzimmer ausbreiten. Nie hatten Lobbyinteressen es leichter als heute, mit Studien Stimmung zu machen. Da muss ich mich als Laie drauf verlassen können, dass Fehler nicht unentdeckt bleiben. Bei der IARC scheint Ihr Engagement als Fehlersucher/-melder leider weniger Gewicht zu haben, da zur Fehlersuche mindestens ebenso viel Expertise gehört, wie zum Abarbeiten von Studien, will mir die Abwertung von Fehlersuchern allerdings nicht so recht einleuchten. Ist doch eine Qualitätssicherungsmaßnahme, die der Wissenschaft insgesamt gut tut. Womöglich hat aber seitens IARC gar keine Abwertung stattgefunden und ich habe diesen Eindruck nur eingetrichtert bekommen, weil ich zu viel über diese IARC-Geschichte auf gegen Sie gerichteten Seiten gelesen habe.

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