"Das digitale Dilemma" hier und jetzt kostenlos streamen (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Montag, 20.05.2024, 15:35 (vor 27 Tagen) @ H. Lamarr

Was für ein Geschäftsmodell! Das Publikum, das er mit seinen Filmen unnachgiebig für dumm verkauft, soll jetzt auch noch die Produktionskosten des aktuellen Streifens mit tragen. Jetzt bin ich gespannt, ob er diese Respektlosigkeit auf die Spitze treibt und fürs Anschauen seines Films noch einmal Geld haben möchte. Beispielsweise bei der Aufführung in Programmkinos oder wenn eine DVD merklich teurer ist, als die Versandkosten.

Nein, Klaus Scheidsteger hat ein Einsehen gehabt und bietet sein jüngstes Werk im www gratis an. Er sieht seinen neuen Streifen wie üblich als Dokumentarfilm, ich wie üblich als Märchenfilm für Erwachsene. Um nichts unversucht zu lassen, doch noch den einen oder anderen Spendeneuro locker zu machen, hält der Filmemacher auch diesmal eine Website zum Film bereit. Dort lockt der Vorspann "Stopfgänse" an:

Diese faktenbasierte Reportage fordert zu einem offenen Diskurs auf und sieht sich als ein Stück Aufklärung für den mündigen Verbraucher. Dabei kommen renommierte Wissenschaftler ebenso zu Wort, wie engagierte Ärzte, Entwickler, Baubiologen und Betroffene. Lösungen für eine digitale Zukunft werden ebenso gezeigt, wie der visualisierte Verlauf einer privat finanzierten, neuen Studie, die von einem interdisziplinären, internationalen Team durchgeführt wurde.

Wir begeben uns filmisch auf eine spannende Reise und zeigen die Kehrseite von gängiger Fortschrittswerbung.

Von einer spannenden Reise kann aus meiner Sicht jedoch keine Rede sein, denn die "faktenbasierte Reportage" ist im Wesentlichen nur ein Schaulaufen bekannter und unbekannter Mobilfunkgegner. Der wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurs um das "Risiko Mobilfunk" wird damit auf die Sicht einer von zwei Streitparteien eingedampft. Das ist langweilig, zumal ich bei meinen Stichproben in dem Film nichts erfahren habe, was nicht schon bekannt ist.

Allerdings war es bestimmt nicht Scheidstegers Absicht, mich von der Schrecklichkeit elektromagnetischer Feldeinwirkungen zu überzeugen, seine Zielgruppe sind Bevölkerungsgruppen, die nichts über die Mobilfunkdebatte wissen und deshalb alles glauben müssen, was er seine 26 Zeugen der Anklage erzählen lässt. Zeugen der Verteidigung gibt es zwar wie Sand am Meer, ihre Stimmen aber, die den eintönigen Einklang kontrovers zu einem hellhörig machenden Zweiklang aufgewertet hätten, diese Stimmen fehlen in dem Streifen voll und ganz. Dies deute ich so, dass Scheidsteger mündige Bürger nicht selbst über das "Risiko Mobilfunk" entscheiden lassen möchte, sondern er anspruchslose "Stopfgänse" ansprechen will, die allein am Konsum vorgefertigter Meinungen interessiert sind, um bei der erstbesten Gelegenheit die Kakofonie der Debatte mit Geschnatter zu bereichern. Ebenso gut hätte Scheidsteger 26 AfD-Wähler vom Fußvolk bis zur Parteispitze darüber Auskunft geben lassen können, was sie vom "Risiko einer gesellschaftlichen Überfremdung" durch eine Völkerwanderung aus Afrika nach Europa halten ...

Scheidstegers Zeugen der Anklage sind ein bunter Haufen von Privatleuten, Geschäftsleuten und Wissenschaftlern. Einziger gemeinsamer Nenner: Alle sind davon überzeugt, dass mit Mobilfunk ein gesundheitliches Risiko verbunden ist. Der Filmabspann listet die Zeugen in der Reihenfolge ihres Erscheinens auf, ein kompetenter Korrekturleser hätte dieser Liste gutgetan:

► Thorsten Kirsch
Prof. Dr. Klaus Buchner
Michèle Rivasi
► Charles Maxence Layet
Dr. Fiorella Belpoggi
Dr. Ron Melnick
► Prof. Dr. Christian Kreiß
Prof Henry Lai
Prof Martin Pall
► Jan Hertsgaard
Dr. George Carlo
Jeffrey B. Morganroth
► Del Walters
Dr. Petra Wiechel
► Kesari Reber
Dr. Dietrich Moldan
Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt
► Angelika Schlotmann
► Heinrich Christel
Dr. Cornelia Waldmann-Selsam
► Prof. Dr. Suat Topsu
Prof Dr. Ing. Wilfried Kühling
Christian Oesch
Daniel Laubscher
► Dr. Sachin Gulati
Prof. Dr. Igor Belyaev

Ob Scheidsteger alle persönlich besuchte, darf bezweifelt werden, ich gehe davon aus, der Filmemacher hat sich z.B. bei Ron Melnick und Henry Lai an fremdem Material bedient. Sei's drum. Immerhin wird Fiorella Belpoggi nicht mehr fälschlich zur Professorin hochgejubelt. Dafür leistet sich Scheidsteger neue Unschärfen, indem er mit der alleinigen Nennung des akademischen Grades "Dr." es der Phantasie des Betrachters überlässt, in welchem Fach die Leute promovierten. Aus praxisfernen Humanmedizinern wie Waldmann-Selsam können so schnell Naturwissenschaftler werden.

Aus meiner Sicht ist "Das digitale Dilemma" der bislang schlechteste von Scheidstegers Märchenfilmen zum "Risiko Mobilfunk". In der Werbung ist es unbestritten, dass die Botschaft eines Werbetreibenden erst nach mehrmaliger Wiederholung beim Rezipienten ankommt. Doch Werbespots sind kurz und der Umworbene kann sich zwischen Wiederholungen erholen. Scheidstegers Werk aber hat Spielfilmlänge. Das macht den 26-fachen Versuch, die Meinung der Zuschauer zurechtzukneten, aufdringlich und anstrengend.

Hintergrund
Klaus Scheidstegers Fußabdruck im IZgMF-Forum

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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