Mit der “Resolution 1815” des Europarats gelang dem Luxemburger Politiker Jean Huss ein Überraschungcoup. Denn ginge es nach dieser Resolution, wäre Elektrosmog eine der schlimmsten Bedrohungen der Menschheit, geltende Grenzwerte müssten gesenkt und für sogenannte Elektrosensible Schutzzonen eingerichtet werden. Wissenschaftlich objektiv begründbar ist jedoch keine der 23 Forderungen, die Huss zu Papier brachte. Dass 26 Vertreter des Europarats die Resolution dennoch abnickten, ist ein Musterbeispiel beharrlicher Lobbyarbeit eines Einzelnen. Der Beitrag zeigt: Hastig unter Zeitdruck agierende Politiker haben kaum eine Chance, sich einem über drei Jahre vorbereiteten Angriff auf den gesunden Menschenverstand zu widersetzen (27.05.2012).
Der Beitrag ist wegen seines Umfangs so aufgebaut, dass ein Abschnitt nicht auf dem vorhergehenden aufbaut, sondern jeder Abschnitt unabhängig ist. Dies soll Querlesen erleichtern. Empfohlene Einstiegspunkte für Querleser sind:
► Der Berichterstatter (Initiator der Resolution)
► Reaktionen auf die Resolution (Medien und Verbände)
► Irreführung der Öffentlichkeit
► Debatte im Standing Committee vor Annahme der Resolution
► Entstehungsgeschichte der Resolution
Resolution mit brüchigem Fundament
Wer sich die Forderungspunkte der Resolution 1815 (englischer Originaltext) unvoreingenommen ansieht und die Entwicklung der Mobilfunkdebatte kennt, reibt sich verwundet die Augen, was die Europaräte auf ihrer Sitzung in Kiew da abgenickt haben. Ein belastbares Fundament geht den Forderungen ab, vielmehr wirkt es so, als hätten an der Resolution Bürgerinitiativen mitgewirkt, Betreiber mobilfunkkritischer Alarmseiten sowie Verbände von Baubiologen und Alternativmedizinern. Nahezu alle Forderungen der Resolution wurden nämlich von diesen Akteuren der Mobilfunkdebatte in den vergangenen Jahren auf lokaler und regionaler Ebene erhoben. Keine der Forderungen lässt sich wissenschaftlich seriös stützen, manche Forderungen wie die Schaffung von „Schutzzonen“ für Elektrosensible sind geradezu absurd, denn bislang gelang es weltweit keinem einzigen überzeugten Elektrosensiblen, seine unerwünschte Fähigkeit unter kontrollierten Bedingungen zu beweisen. Elektrosensibilität ist gegenwärtig lediglich eine Behauptung, die mit bislang gut 60 wissenschaftlichen Studien an mehr als 1200 Testpersonen in aller Welt nicht objektiviert werden konnte.
Wie aber kann es sein, dass bei einer derart diffusen Ausgangssituation die Resolution 1815 mit ihren teils konkreten Forderungen dennoch im Europarat so weit kommen konnte? Die Erklärung ist ein Musterbeispiel für Interessenpolitik.
Bedeutung des Europarats
Der Europarat ist eine internationale Organisation mit Sitz in Straßburg, die 47 Staaten Europas umfasst. Ziel des Europarates ist die Förderung der Demokratie sowie der Schutz der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in Europa. Der Europarat ist eine eigenständige Organisation, er ist älter als die EU und von ihr völlig unabhängig.
ZusammenfassungAm 27. Mai 2011 verabschiedete der „Ständige Ausschuss“ (Standing Committee) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats auf seiner Sitzung in Kiew (Ukraine) die Resolution 1815: “The potential dangers of electromagnetic fields and their effect on the environment” (Potenzielle Gefahren elektromagnetischer Felder und deren Wirkung auf die Umwelt). Stimmberechtigt waren 29 Personen, drei enthielten sich der Stimme, der Rest war dafür. Unmittelbar vor der Abstimmung wurde die Resolution gegenüber dem Entwurf vom 6. Mai 2011 an entscheidenden Stelle entschärft: Die Forderung nach einem Verbot von Handy, DECT und W-LAN an Schulen fiel weg. Diese Änderung wurde in der öffentlichen Berichterstattung komplett übersehen und bis heute verbreitet ein Anti-Mobilfunk-Verein den überholten und unzutreffenden Entwurf. Initiator der Resolution ist der Luxemburger Jean Huss. Der Lokal- und Europapolitiker ist zugleich Präsident des Umweltvereins “Akut”. Huss ist in dieser Funktion mit der europäischen Risikoszene gut vernetzt und steht in Kontakt zu kommerziellen Nutznießern seiner Resolution. |
Aufgrund chronischen Geldmangels wurden 2010 drastische Sparmaßnahmen beschlossen: Personalabbau in Straßburg, Streichung mehrerer Projekte sowie Schließung von Auslandsrepräsentationen [2].
Die Resolution 1815 ist die Idee des luxemburgischen Lehrers Jean Huss, Jahrgang 1947. Der Mitbegründer der “Grünen” in Luxemburg saß von 2004 bis zum 3. Oktober 2011 in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE), er ist dort eines von 318 Mitgliedern der Versammlung gewesen. Die wichtigsten Arbeiten der 4-mal im Jahr tagenden Versammlung werden von Fachausschüssen erledigt, Huss war Mitglied im Ausschuss für „Wanderbewegungen, Flüchtlings- und Bevölkerungsfragen“ und im Ausschuss für „Umwelt und Landwirtschaft, kommunale und regionale Angelegenheiten“ sowie in einigen Unterausschüssen.
Neben seinen Pflichten als Politiker ist Jean Huss Präsident des gemeinnützigen Vereins „Akut“, gegründet 1991 und seit Ende 1999 mit einer eigenen Website im Internet präsent. In einem frühen Selbstportrait sieht sich „Akut“ als Aktionsgruppe für Umwelttoxikologie, die Mitglieder seien Betroffene, die infolge Umweltbelastungen gesundheitliche Schäden erlitten hätten, sowie Leute, die sich der Problematik der Umwelttoxikologie und deren Auswirkungen auf die Gesundheit bewusst seien. Ziel sei es, das Thema Umwelttoxikologie aufzugreifen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Website von Akut zeigte anfangs alle Merkmale einer typischen Alarmseite: Quietschbuntes Layout, die Themen lauten Amalgam, Elektrostress, DECT, Wohngifte, Links führen zur deutschen Bürgerwelle und zu “Gigaherz” und die Selbsthilfegruppe Amalgam trifft sich unter Leitung von Jean Huss im Akut-Lokal. Heute wirkt der Internetauftritt von “Akut” optisch seriöser, die Inhalte sind spärlicher geworden, haben sich jedoch nicht grundsätzlich geändert. In der Rubrik “Elektrosmog” finden sich weiterhin zahlreiche Behauptungen ohne belastbare Grundlage. Unter “Neuigkeiten” wird im Mai 2012 noch immer Ausgabe 2 des kostenpflichtigen Magazin “Impuls” von Diagnose-Funk (ein Anti-Mobilfunk-Verein) aus dem Jahr 2010 empfohlen (das Magazin wurde allerdings schon Mitte 2011 eingestellt). Nein, die Website, sie ist mit Sicherheit nicht die Schokoladenseite des Vereins “Akut”.
Einem luxemburgischen Medienbericht zufolge telefoniert “Hobbyexperte” Huss selbst gerne und oft mit seinem Handy [1]. Er sei, heißt es dort, nicht gegen die Nutzung von Mobilfunktelefonen, verweise aber auf die Wichtigkeit einer richtigen Standortwahl.
Ziele der Resolution 1815Der Forderungskatalog des Beschlusses über die Funkfelder ist lang, er umfasst z.B. die Pauschalforderung (8.1.1), alle zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um die Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern zu reduzieren, besonders bei Handys, um insbesondere die Belastung von Kindern und Jugendlichen zu reduzieren. Eine andere Forderung (8.1.4) gilt den sogenannten „Elektrosensiblen“, für die funkwellenfreie Schutzzonen eingerichtet werden sollen. Für Innenräumen wird eine maximale Feldstärke von zunächst 0,6 V/m gefordert, später sollen es 0,2 V/m sein (8.2.1). Überhaupt sollen die Grenzwerte für Sendemasten auf den kleinstmöglichen Wert reduziert und diese Maßnahme durch ständige Überwachung aller Sendemasten kontrolliert werden (8.4.3). Die Herzen von Wutbürgern höher schlagen lässt eine Forderung (8.4.4), derzufolge die Standortwahl für neues Sendemasten unter anderem in Absprache mit Anwohnern und Bürgerinitiativen zu erfolgen habe. Insgesamt haben die Ausschussmitglieder 23 solche Forderungen abgenickt. |
► Website derStandard.at (27.05.2011): “Europarat will WLAN aus Schulen verbannen” [10].
► Grüner Klub im österreichischen Parlament (30.11.2011): “Der Ständige Ausschuss des Europarates forderte in seiner Resolution 1815 (2011) "The potential dangers of electromagnetic fields and their effect on the environment" vom 27.5.2011 eine europaweite Wende in der Mobilfunkpolitik.” [7].
► Bündnis 90/Die Grünen in einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung (29.07.2011): “Hat die Bundesregierung Maßnahmen beschlossen, um der Resolution des Umweltausschusses des Europarates (Resolution vom 6. Mai 2011) und des ständigen Ausschusses (Resolution vom 27. Mai 2011) gerecht zu werden ...” [11].
► Kreisverband der Grünen in Fulda (19.09.2011): “Auf Grund neuer Erkenntnisse verabschiedete am 27.5.11 das höchste Beschluss fassende Gremium des Europarates eine Resolution zur europaweiten Wende in der Mobilfunkpolitik.” [3]
► Anti-Elektrosmog-Produktanbieter Fostac auf seiner Website (03.08.2011): “Europarat erkennt Elektrosmog-Gefahren - "EU Resolution 1815". EU Resolution über die Gefahren elektromagnetischer Felder und deren Umwelteinflüsse.”
► Die Stadt Erkrath begründet im Juni 2011 ihr “Mobilfunkversorgungskonzept” u.a. mit der “... vom Ständigen Ausschuss des Europarates am 27.5.2011 übernommene Resolution 1815 (2011), „The potential dangers of electromagnetic fields and their effect on the environment.“ [4].
► Mobilfunkgegnerin Dr. med. C. Waldmann-Selsam in einem Brief an den bayerischen Landtag (25.05.2011): “Aktueller EU-Report ‘The potential dangers of electromagnetic fields and their effect on the environment’ vom 06.05.11 [...] ... der Ausschuss für Umwelt, Landwirtschaft und regionale Angelegenheiten des Europarates fordert in dem Report ‘The potential ...’ vom 06.05.11 ein Umsteuern in der Mobilfunkpolitik.” [12].
► Der Rat der französischen Kleinstadt Varades verfügt im September 2011 fürs Gemeindegebiet eine Senkung der Immissionsgrenzwerte auf 0,6 V/m und beruft sich dabei auf die Resolution 1815 [5].
► Ein deutscher Baubiologe wird im September 2011 von einer Zeitung zitiert "... er habe an Ort und Stelle bereits 2000 Mikowatt auch ohne Tetra gemessen, was weit entfernt sein vom Wert von 100 Mikrowatt, den der Europarat gefordert hat." [6].
► Bürgerwelle Deutschland unter Berufung auf die Nachrichtenagentur AFP (27.05.2011): “In den Schulen müsse der Gebrauch von Handys strikt eingeschränkt werden, forderte die Parlamentarierversammlung der Länderorganisation am Freitag bei einem Treffen in Kiew. Außerdem sollten WLAN-Netzwerke ganz aus den Schulen verbannt und durch ...” [8].
► Diagnose-Funk (27.05.2011): “Das höchste beschlussfassende Gremium des Europarates, der Ständige Ausschuss, fordert am 27.05.2011 in seinem Beschluss ‘Die potentiellen Gefahren durch elektromagnetische Felder und ihre Auswirkung auf die Umwelt’ eine europaweite Wende in der Mobilfunkpolitik. Er übernahm und verabschiedete damit die Resolution des Umweltausschusses vom 06.05.2011.” [9].
Nicht auf die Goldwaage“Die Resolution 1815 muss man nicht auf die Goldwaage legen. Der Bericht dazu steht ja auf wackligen Füßen, der Berichterstatter hat sich auf ziemlich einseitiges Material gestützt. Ich würde dem jetzt nicht zu große Bedeutung beimessen. Wenn man das Thema wirklich wollte, wäre da schon längst etwas geschehen.” Ein Mitglied der deutschen Delegation am Europarat, das nicht genannt werden möchte. |
Die übrigen politischen Reaktionen in Deutschland fanden, wie oben an einem Beispiel gezeigt, eher auf Kreisebene politischer Parteien statt.
Das mit Abstand größte Echo hatte die Resolution in der Anti-Mobilfunkszene, bei Bürgerinitiativen, Vereinen und kommerziell am Fortgang der Mobilfunkdebatte interessierten Alternativmedizinern und Gewerbetreibenden. Diese Gruppierungen verwenden die Entschließung zur Aufwertung des eigenen Standpunkts, dem in aller Regel mangels Substanz die Anerkennung verweigert wird. Mit einer vermeintlich wichtigen Resolution des seriösen Europarats im Rücken erhoffen sich die Gruppierungen einen Ausgleich des eigenen Substanzdefizits durch Fremdsubstanz. Inwieweit dabei Verwechslungen des (machtlosen) Europarats mit der (machtvollen) Europäischen Union eine Rolle spielen, bleibt bis auf die konkreten Fälle unklar.
Die nebenstehende Grafik zeigt die Anzahl der echten Google-Treffer auf die englischsprachige Suchanfrage "council of europe" + “resolution 1815" (International) und auf die deutschsprachige Anfrage europarat + "resolution 1815" (National). Die Kurven sind interpoliert, sie stützen sich auf zwei Abfragen im September und Dezember 2011 sowie auf eine im Mai 2012.
Dünn gesät sind die Gegenstimmen: Die GSMA Europe (Vereinigung der GSM-Netzbetreiber) hatte mit Dr. Jack Rowley zwar einen hochrangigen Vertreter in Huss’ Anhörung am 25. Februar 2011 entsandt, eine Presse-Information gab der Verband anlässlich der Resolution jedoch nicht heraus. Eine nicht bestätigte Unmutsbekundung der GSMA findet sich lediglich auf der Website Tech Week Europe. Dort heißt es: “The Committee draft report is an unbalanced political assessment not a scientific report. It ignores the conclusions of the many authoritative reviews who have found that present safety recommendations provide protection for all persons,” said the GSM Association.” Die wenige Tage nach Verabschiedung der Resolution von einer IARC-Arbeitsgruppe veröffentliche Eingruppierung von Mobilfunkfeldern in die Gruppe 2B der Krebswahrscheinlichkeit, war der GSMA dagegen eine Reaktion wert.
Wenig bekannt ist, dass auch das MMF (Verband der Mobilfunkausrüster) sich im Dezember 2011 mit einer Stellungnahme (PDF, englisch, 2 Seiten) konkret gegen die Resolution ausspricht. In dem Papier wird zuerst einmal darum gebeten, die Entschließung des Europarats nicht fälschlich als Votum der EU zu kommunizieren, wie es unter anderem auch der Website elektrosmognews (“EU-Ausschuss”) passiert ist. Dann heißt es lakonisch, die Entschließung des Rats stünde im Widerspruch zu nicht weniger als 63 nationalen und internationalen Bewertungen durch Experten, die es allein innerhalb der zurückliegenden fünf Jahre gegeben habe, und die übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen seien, es gäbe keine belastbaren Beweise für gesundheitliche Nebenwirkungen unterhalb der geltenden Grenzwerte. In weiteren Absätzen der insgesamt sechs Punkte umfassenden Gegendarstellung geht das MMF den Report der BioInitiative an, zweifelt an der wissenschaftlichen Substanz der Resolution und wendet sich gegen die Behauptung von empfindlich auf EMF reagierende Personengruppen (Kinder/Alte). Zuletzt weist das MMF auf die Irreführung hin, die sich aus der Textänderung der Resolution gegenüber dem Entwurf ergeben habe.
Irreführung der Öffentlichkeit
Wahrscheinlich sind sehr viele Medienberichte über die vom Europarat verabschiedete Resolution 1815 inhaltlich falsch. Denn an dem Tag (27. Mai 2011), an dem die Resolution verabschiedet wurde, wurde sie auch gegenüber dem Entwurf vom 6. Mai 2011 an einem entscheidenden Punkt geändert: Das ursprünglich geforderte Verbot von Handys, DECT und W-LAN in Klassenzimmern wurde aufgegeben und durch eine milde Empfehlung ersetzt. Betroffen davon ist Abschnitt 8.3.2 der Resolution.
Abschnitt 8.3.2 im Entwurf der Resolution |
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Abschnitt 8.3.2 in der verabschiedeten Resolution |
... ban all mobile phones, DECT phones or WiFi or WLAN systems from classrooms and schools, as advocated by some regional authorities, medical associations and civil society organisations. |
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... for children in general, and particularly in schools and classrooms, give preference to wired Internet connections, and strictly regulate the use of mobile phones by schoolchildren on school premises. |
Auf diese Änderung gegenüber der Beschlussvorlage wurde jedoch weder von Berichterstatter Jean Huss noch von Stellen des Europarats aufmerksam gemacht, und deshalb kam es Ende Mai 2011 noch zu weiteren Meldungen mit einer unzutreffenden Überschrift wie “Europarat will WLAN und Handys aus Schulen verbannen”.
Der Irreführung mit dem vermeintlich geforderten Nutzungsverbot saß im Oktober 2011 ein Abgeordneter des Europaparlaments auf. In einer Anfrage an EU-Kommissar John Dalli behauptete der Spanier: Insbesondere forderte er [Anm: Europarat] ein Nutzungsverbot für diese Geräte [Anm.: Mobiltelefone und W-LAN] an Schulen [19].
Noch heute, 1 Jahr nach Verabschiedung, bietet der Anti-Mobilfunk-Verein Diagnose-Funk auf seiner Website die Beschlussvorlage und damit die falsche Fassung der Resolution in deutscher Übersetzung zum Download an. Auf der entsprechenden Webseite des Vereins (Europarat fordert Kurswechsel) heißt es zwar, die Seite sei am 27. Mai 2011 aktualisiert worden, tatsächlich wird jedoch sowohl auf der Website als auch im dort angebotenen PDF nur der Entwurf der Resolution verbreitet, nicht die verabschiedete Fassung.
Kleine Chronologie: Wie die Resolution in die Medien fand
Dass schon die Beschlussvorlage der Resolution in die Medien gelangen, und der 21 Tage später folgenden Resolution die Show stehlen konnte, liegt an der großen Transparenz, mit der der Europarat den Werdegang seiner Beschlüsse dokumentiert.
06. Mai 2011: Auf der Website des Europarats wird die Beschlussvorlage der späteren Resolution 1815 als Dokument 12608 eingestellt. Einige Tage nur sollte dies unbeachtet bleiben.
14. Mai 2011: Richard Gray, Wissenschaftskorrespondent der britischen Zeitung “The Telegraph”, hat den Entwurf der Resolution entdeckt, und schreibt den Artikel “Ban mobile phones and wireless networks in schools, say European leaders”. Gray erkennt, dass es sich erst um den Entwurf einer Resolution handelt und schreibt völlig korrekt: “The draft resolution will now go before the council's full Parliamentary Assembly for approval.”
15. Mai 2011: Don Maisch, Australien, wird auf den Beitrag in “The Telegraph” aufmerksam und berichtet darüber als erster Mobilfunkgegner auf seiner Website EMFacts Consultancy.
16. Mai 2011: In Deutschland thematisiert als erstes Magazin “Der Spiegel” den Vorstoß des Europarats. Auch im Spiegel-Beitrag wird deutlich, dass es sich um eine Beschlussvorlage handelt, die noch verabschiedet werden muss. Noch am selben Tag greift die Bürgerwelle Deutschland den Spiegel-Artikel auf. Damit ist die spätere Resolution auch in der deutschen Anti-Mobilfunk-Szene angekommen. Und die Website inside-handy.de titelt irreführend: “Europarat-Studie: EU-Komitee empfiehlt Handyverbot an Schulen”. Irreführend, weil a) von einer Studie des Europarats keine Rede sein kann, und b) der Europarat und die EU zwei völlig getrennte Organisationen sind.
17. Mai 2011: Waren es vor dem 17. Mai nur ganz wenige Sites, die im deutschen Sprachraum das Thema aufgegriffen haben, wächst vom 17. bis 26. Mai 2011 die Anzahl auf ca. 30 (Suchbegriff “Europarat WLAN Handys Schulen” in Google).
27. Mai 2011: Auf der Website des Europarats wird die verabschiedete Resolution 1815 eingestellt. Noch einmal reagieren die Medien: Für die Tage vom 27. bis 31. Mai meldet Google knapp 30 weitere Berichte, aus denen bei einigen allerdings noch immer der Geist der Beschlussvorlage weht.
Debatte zum Entwurf der Resolution 1815 am 27. Mai 2011 in Kiew
Mevlüt Çavuşoğlu, Türkei, damals Präsident der Parlamentarischen Versammlung, eröffnete die Sitzung des Standing Committee in Kiew um 9:10 Uhr, sie sollte bis 13:15 Uhr dauern. In diesen rund vier Stunden wurden insgesamt 17 politische Geschäftsvorfälle abgehandelt: von der Eröffnung über den Meinungsaustausch mit Kostyantyn Gryshchenko, Minister für auswärtige Angelegenheiten der Ukraine und Vorsitzender des Ministercommittees des Europarates bis hin zur Terminfestsetzung für das nächste Zusammentreffen. Unter Punkt 14 wurden zwei Resolutionsentwürfe des Ausschusses für „Environment, Agriculture and Local and Regional Affairs“ debattiert. Insgesamt verabschiedete das Standing Committe am 27. Mai 2011 eine Recommendation (1971) und die fünf Resolutionen 1812 bis 1816.
Als Mitglied des Ausschusses für „Social, Health and Family Affairs„ brachte Jean Huss noch den Entwurf einer zweiten Resolution (1816) mit dem Titel „Health hazards of heavy metals“ ein. Die Debatte dazu war kurz, bemängelt wurde lediglich, dass eine Tabelle Metalle aufliste, die gar keine Schwermetalle seien. Einzige Änderung: Der Titel der einstimmig angenommenen Resolution lautet nun“Health hazards of heavy metals and other metals“.
Europarat internDas “Standing Committee” (SC) tagt zwischen den Sitzungen der Versammlung. Damit die Tagungen bei den regulären Sitzungswochen in Straßburg nicht völlig überlastet sind, werden fertige Berichte schon im SC verabschiedet. Die Verabschiedung von Berichten in der Versammlung ist dazu gleichwertig. Einen parlamentarischen Nachschlag zu einem Beschluss des SC gibt es nicht. Es gibt zwei Arten, einen Bericht zu verabschieden: als Resolution oder als Recommendation. Eine Resolution (Entschließung) richtet sich meist an die Regierungen und Parlamente der Mitgliedsstaaten und andere Institutionen. Resolutionen werden mit einfacher Mehrheit beschlossen. Recommendations sind Empfehlungen an die Regierungen der Mitgliedsstaaten, sie brauchen eine 2/3-Mehrheit und wiegen politisch schwerer als Resolutionen. Was aus einem Bericht wird, Resolution oder Recommendation, hängt vom Inhalt des Berichts ab. Soll z.B. das Ministerkomitee des Europarats aufgefordert werden, gesetzgeberisch tätig zu werden, wäre dies eine Recommendation. Werden dagegen nur Erwartungen oder rein politische Forderungen ausgesprochen, dann ist es eine Resolution. Der Bericht eines Berichterstatters gibt im Grunde dessen persönliche Meinung wieder. Der Bericht wird zwar im zuständigen Ausschuss beraten, bleibt aber Eigentum des Berichterstatters. Deutschland hatte zu dem Meeting am 27. Mai 2011 in Kiew keinen Delegierten entsandt. Solche Termine beißen sich häufig mit Terminen in Berlin und anderswo, im Normalfall gehen die Verpflichtungen der Parlamentarier Zuhause vor. Rainer Dornseifer am 29.06.2011 gegenüber dem IZgMF. Dornseifer ist in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Referent für den Europarat. |
► Marietta de Pourbaix-Lundin, Schweden, merkte an, die Wissenschaft habe in dieser Angelegenheit andere Erkenntnisse. Infolgedessen gäbe es keine Gewissheit, dass die im Resolutionsentwurf vorgeschlagenen Empfehlungen, würden sie umgesetzt, sich in einer Risikoverringerung niederschlügen. Sie findet es bedauerlich, dass der Bericht und der Resolutionsentwurf mit so markigen Worten formuliert worden sei. Obgleich Sie den Vorschlag begrüße, die Wortwahl in Absatz 8.3.2 zu entschärfen, sei der Vorschlag kabelbezogener Internetzugänge unpraktikabel, weil viele Schulen diese Möglichkeit gar nicht mehr anböten. Dementsprechend sollte Absatz 8.3.2 ersatzlos gelöscht werden.
► Der Niederländer Tiny Kox gab seiner Einschätzung Ausdruck, dem vorliegenden Bericht käme das Verdienst zu, eine Warnung vor den Gefahren elektromagnetischer Felder zu geben. Bedauerlicherweise hätte sich die Parlamentarische Versammlung seit Jahren dagegen gestäubt, zu den neuen Technologien Stellung zu nehmen. Jetzt sei es notwendig mit Vorsicht zu handeln, radikale Vorschläge aber zu vermeiden, wie etwa das Totalverbot von Mobiltelefonaten auf Schulgeländen. Er begrüße daher die neue gemäßigtere Wortwahl, die der Berichterstatter vorgeschlagen hat. Kox dankte im Namen der „Vereinigten Europäischen Linken“ Herrn Huss für seinen unermüdlichen Einsatz.
► Theo Maissen, Schweiz, bestätigte, die Frage der elektromagnetischen Strahlung sei wichtig. Der Europarat solle sich dieser Frage weiter annehmen. Die Ergebnisse einer jüngst in der Schweiz durchgeführten Studie sollten bei der weiteren Begutachtung der Angelegenheit in Betracht gezogen werden, dies könne den Europarat zu weiteren Schritten ermutigen.
► Der Rumäne Titus Corlatean meinte, Ziel der parlamentarischen Versammlung solle ein politisches Signal sein, das nachträglich auf legislativer Ebene zu reflektieren sei. Betreffend Absatz 8.3.2 gäbe es einen gangbaren Kompromiss zwischen dem Extrem des Totalverbots, das schwierig durchzusetzen sei, und dem Extrem totaler Freiheit, das negative Folgen zeigen würde, nicht nur mit Blick auf die Gesundheit, sondern auch bezüglich der Qualität des Unterrichts.
► Dimitrios Papadimoulis, Griechenland, begrüßte die neue Formulierung des Absatzes, er finde sie ausbalancierter.
► Die Armenierin Hermine Naghdalyan merkte an, ein Totalverbot sein nicht mit Fortschrittsverweigerung gleichzusetzen, sondern könne mit den höheren Schutzinteressen für Kinder gerechtfertigt werden.
► Luca Volontè, Italien, lobte den Berichterstatter für seine Bereitschaft, den fraglichen Absatz unter Einbeziehung der Einwände von Frau Pourbaix-Lundin zu ändern.
► Die Kroatin Mirjana Feric-Vac dankte dem Berichterstatter und meinte, Mobilfelefone gehörten heute zum Alltag, die Art und Weise, wie Kinder damit umgingen würde davon abhängen, wie sie von uns damit vertraut gemacht werden. Internet an Schulen wäre für Kinder aus einkommenschwachen Familien häufig der einzige Weg Zugang zu Informationen zu bekommen. Ihnen diesen Zugang zu nehmen könnte die Kluft in der Gesellschaft weiter vergrößern.
► Håkon Hougli aus Norwegen merkte an, die Resultate von Mobilfunkstudien seien häufig mehrdeutig. Trotzdem sei es nötig, das Vorsorgeprinzip zu fordern, um auf der Hut zu sein.
► Juha Korkeaoja aus Finnland griff den Gedanken des Vorsorgeprinzips auf, es sei das Leitprinzip für die Entscheidungsfindung auf unterschiedlichen Gebieten, etwa in der Gentechnik. In der Herangehensweise gäbe es zwischen Europa und den USA Unterschiede. Europäer akzeptierten ein Produkt, sobald wissenschaftliche Nachweise für dessen Unschädlichkeit vorlägen. Anders in den USA: Dort würden Nachweise für die Schädlichkeit eines Produkts abgewartet, bevor dieses verboten werde. Der Unterschied läge im Grad des in kauf genommenen Risikos. Wollen wir unsere Kindern dem gleichen Risiko aussetzen, wie wir es heute für uns selbst tun? Die Änderung am Resolutionsentwurf, wie sie vom Berichterstatter vorgeschlagen wurde, sollte unterstützt werden.
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Präsident Çavuşoğlu schloss die Debatte und sagte, zwei Änderungsanträge seien zum Entwurf der Resolution eingereicht worden. Falls Änderungsantrag 2 angenommen werden würde, wäre Antrag 1 hinfällig.
Frau Pourbaix-Lundin reichte Änderungsantrag Nr. 2 ein (Löschen von Absatz 8.3.2). Die Luxemburgerin Anne Brasseur erhob dagegen Einspruch. Änderungsantrag 2 wurde abgewiesen. Jean Huss reichte Änderungsantrag 1 ein (Umformulierter Absatz 8.3.2). Dagegen gab es keine Einwände, dieser Änderungsantrag wurde angenommen.
Der Präsident legte den berichtigten Entwurf der Resolution aus Dokument 12608 zur Abstimmung vor, die mit drei Stimmenthaltungen als Resolution 1815 (2011) angenommen wurde.
Stimmberechtigte des Standing Committee in Kiew
Die Resolution 1815 wurde am 27. Mai 2011 in Kiew vom Standing Committee des Europarats angenommen. Stimmberechtigt sind alle Mitglieder des Standing Committees, anwesend in Kiew waren 29 Mitglieder:
Bei drei Stimmenthaltungen stützt sich die Resolution damit auf 26 Stimmen.
Einfache Mehrheit genügt
Wir fragten im Sekretariat des Europarats nach, welche Mehrheit zur Annahme einer Resolution erforderlich ist, und wie so eine Abstimmung im Ständigen Ausschuss praktisch abläuft. Kateryna Gayevska beantwortete unsere Fragen:
Gemäß Paragraph 39 c der “Rules of Procedure of the Parliamentary Assembly” genüge eine einfache Mehrheit von Ja-Stimmen, um den vorgelegten Entwurf einer Resolution zu verabschieden. Stimmen die Teilnehmer einer Sitzung des Ständigen Ausschusses über einen Entwurf ab, geschehe dies üblicherweise durch heben einer Hand. Dabei sei nicht vorgesehen zu dokumentieren, welcher Teilnehmer wie gestimmt hat (bei elektronischer Abstimmung sei dies anders). Im Protokoll einer solchen Sitzung würden deshalb nur die Anzahl der Gegenstimmen und Stimmenthaltungen aufgezeichnet.
Entstehungsgeschichte der Resolution 1815
Vier Jahre nachdem ihn das Luxemburgische Parlament in den Europarat entsandt hat initiiert Jean Huss am 5. Dezember 2008 eine Konferenz in Straßburg. Es geht um Schadstoffe in Gebäuden und um sogenannte Multisystemerkrankungen (CMI). Als Experten holte Huss unter anderem M. Ralph Baden vom luxemburgischen Gesundheitsministerium, Dr. med. Gerd Oberfeld von der Landessanitätsdirektion Salzburg sowie Dr. med. Peter Ohnsorge und Dr. med. Kurt Müller, beide von der „European Academy for Environmental Medicine“ (Europaem), einem in Würzburg registrierten Verein. Ohnsorge ist dort Geschäftsführer, Müller Vorsitzender.
Wie Referent Ralph Baden über Elektrosmog denkt, machte er in Ausführungen über die Gesundheitsaspekte des „Baubiologischen Konzepts“ deutlich:
„Einen besonderen und an Bedeutung zunehmenden Status nimmt das Elektroklima ein: Zum Einen führen die immer zahlreicheren Elektrogeräte und Kommunikationsmittel im Haushalt und speziell im Schlafbereich nicht nur zu einer Zunahme des Komforts sondern ebenfalls zu einer zunehmenden Belastung durch niederfrequenten Elektrosmog. Zum Anderen bewirkt die ansteigende drahtlose Kommunikationstechnologie eine rasante Zunahme von hochfrequenter, gepulster elektromagnetischer Strahlenbelastung, deren gesundheitliche Auswirkungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehbar sind.
Fragen an Jean HussWir wollten dem Initiator der Resolution 1815 Gelegenheit geben, sich auch zu kritischen Aspekten zu äußern. Der Kontakt über das Büro der luxemburgischen Europarat-Delegation verlief vielversprechend, wir bekamen die freundliche Zusage, unser Fragenkatalog werde an Herrn Huss weitergeleitet. Seit Dezember 2011 haben wir jedoch auch auf Nachfrage nichts mehr aus Straßburg gehört, unsere Fragen blieben leider unbeantwortet. Frage 1: Warnungen vor Elektrosmog gibt es seit mindestens 20 Jahren. Warum kommt die Resolution erst jetzt und was unterscheidet sie von ähnlichen Vorstößen auf EU-Ebene? Frage 2: Die Resolution wurde erwartungsgemäß von Mobilfunkgegnern in aller Welt begeistert aufgenommen. Welche konkreten Reaktion (positiv/negativ) sehen Sie gut ein halbes Jahr nach der Resolution auf Seiten der Politik? Frage 3: Für bestimmte Branchen, etwa die Baubiologie, ist die Angst vor Elektrosmog ein lukratives Geschäftsmodell. Wie gehen Sie mit dem Vorwurf um, die Resolution begünstige gewinnbringende "Panikmache"? Frage 4: Sehen Sie sich im Europarat und zuhause in Luxemburg als Lobbyist von Umweltmedizinern und Baubiologen? Frage 5: Unter welchen Voraussetzungen stehen Sie als Referent zur Verfügung, z.B. auf einem Kongress die Hintergründe der Resolution zu erläutern? Frage 6: In der Reifephase der Resolution gab es im zuständigen Ausschuss Hearings mit Experten, z.B. mit dem deutschen Wissenschaftler Dr. Warnke. Nach welchen Kriterien haben Sie diese Experten ausgewählt? Frage 7: Was erwarten Sie, wie es mit der Elektrosmog-Debatte in den nächsten zehn Jahren weiter gehen wird? |
Zudem werden elektrische und magnetische niederfrequente Wechselfelder in der IARC-Liste (International Agency for Research on Cancer) als wahrscheinlich krebserregend für den Menschen eingestuft.“
Die Auskunft von Herrn Baden, die IARC habe elektrische und magnetische niederfrequente Wechselfelder als wahrscheinlich krebserregend eingestuft, entspricht nicht den Tatsachen. Denn diese Einstufung entspräche der IARC-Klassifikation „Group 2A – wahrscheinlich krebserregend“. Tatsächlich aber hat die IARC magnetische Wechselfelder nur in „Group 2B – möglicherweise krebserregend“ eingestuft, elektrische Wechselfelder sogar nur in „Group 3 – nicht klassifizierbar“.
Weltweit Aufsehen erregte Dr. med. Gerd Oberfeld Mitte 2000 als Mitveranstalter der Internationalen Salzburger Mobilfunk-Konferenz, die zu der unter dem Synonym „Salzburger Milliwatt“ bekannten Forderung nach maximal 1 mW/m² Immission führte. Ein verhängnisvoller Fehler unterlief dem Salzburger Umweltmediziner 2008 mit einer Studie über Krebshäufungen im Umkreis eines ehemaligen C-Netz-Mobilfunksenders. Oberfeld hatte sich auf Zeugenaussagen verlassen, denen zufolge der Sender im Zentrum eines später beobachteten Krebsclusters stand. Ein schwerer Irrtum, denn eine amtliche Überprüfung ergab, dass es den Sender am behaupteten Standort nicht gegeben hat. Nach diesem Vorfall zog sich Dr. Oberfeld, bis dahin einer der aktivsten Mobilfunkkritiker im deutschsprachigen Raum, Anfang 2009 von der Mobilfunkdebatte weitgehend zurück, zuvor aber trat er noch im Dezember 2008 auf Huss' Hearing auf.
Auch der Experte Dr. med. Kurt E. Müller hat in der Elektrosmogdebatte längst Farbe bekannt. Der Umweltmediziner, er hat seinen Wirkungskreis im bayerischen Allgäu im Raum Konstanz, taucht 2006 als Erstunterzeichner des Allgäuer Ärzteappells gegen Mobilfunk auf. Der Appell, dessen Inhalt der Resolutionen 1815 stellenweise gut hätte Pate stehen können, wurde von dem Kemptener Arzt und Mobilfunkgegner Dr. med. Markus Kern initiiert. Dieser Facharzt für Psychosomatische Medizin war lange Jahre eine treibende Kraft der bayerischen Mobilfunkdebatte, noch heute wird er von der Kassenärztlichen Vereinigung als Leiter des ärztlichen Qualitätszirkels „Elektromagnetische Felder in der Medizin – Diagnostik, Therapie, Umwelt“ geführt.
► Januar 2009
Das Hearing vom Dezember 2008 in Straßburg hat Folgen. Bereits im Januar 2009 legt Jean Huss den Entwurf für eine Empfehlung zum Themenkomplex Umwelt und Gesundheit vor (Doc. 11788), noch ist das Thema „Elektromagnetische Felder“ (EMF) darin nur einer von rund 30 Punkten. Bereits am 13. März 2009 wird dieser Entwurf vom „Ständigen Ausschuss“ gebilligt und in den Rang einer Empfehlung gehoben (Recommendation 1863), die für EMF lautet: “… the Assembly asks the Committee of Ministers to invite member and observer states of the Council of Europe to take account of the warnings of the European Environment Agency regarding electromagnetic pollution and specific health risks attributed to mobile phone systems.” Dazu muss man wissen, dass diese „warnings“ der Europäischen Umweltagentur 2007 nicht etwa in der Agentur erarbeitet wurden, sondern sich auf den Bericht der sogenannten „BioInitiative“ beruft. Dieser Bericht wurde 2007 von mobilfunkkritischen Wissenschaftlern erarbeitet. Einige davon waren bereits 2000 in Salzburg mit dabei gewesen, Deshalb verwundert es nicht, dass auch die BioInitiative einen maximal zulässigen Immissionswert von 1 mW/m² propagiert. Der Bericht erntete jedoch nicht nur Anerkennung, Experten kritisierten die Mitwirkung von Cindy Sage, Inhaberin einer privatwirtschaftlichen Beratungsfirma in Umweltfragen (speziell EMF), und die von den Autoren des Berichts zusammenfassend gezogen Schlüsse: Keine dieser Schlüsse werde von den großen nationalen und internationalen EMF-Risiko-Bewertungen gestützt. Für die Europäische Umweltagentur kamen die ab Mitte 2008 einsetzenden Kritiken an der BioInitiative zu spät, die Agentur hatte bereits im September 2007 vielleicht etwas vorschnell dem Bericht der BioInitiative Glauben geschenkt und eine viel beachtete Warnung vor möglichen EMF-Risiken ausgesprochen. Huss aber hätte 2009 von den substanziellen Einwänden gegen den Bericht durchaus Kenntnis haben können, dennoch bringt er in sein Dokument 11788 die Warnung der Umweltagentur ohne jeden Vorbehalt mit ein.
► Mai 2009
Im Mai 2009 legt Jean Huss mit einer „Motion“ (Verlangen) für eine weitere Empfehlung den Grundstein für das, was im Mai 2011 zu einem Beschluss gereift sein wird. Die Motion trägt die Dokumentennummer 11894 und den Titel: “The potential dangers of electromagnetic fields and their effect on the environment”. Außer der vagen Ankündigung, dass gegen die Folgen von Hochspannungsleitungen und Funkfeldern mehr Vorsorge betrieben werden müsse, steht in dieser Motion nicht viel drin. Sie wurde weder in der PACE noch in deren Ausschüssen diskutiert, neben Jean Huss tragen noch 16 andere Mitglieder der PACE diese Motion 11894.
► September 2010
Über gut ein Jahr lang sollte sich nichts mehr tun. Erst für den 17. September 2010 ludt der Ausschuss „Umwelt und Landwirtschaft, kommunale und regionale Angelegenheiten“ zu einem neuen Hearing nach Paris ein. Die Agenda umfasst 16 Punkte, unter Nummer 15 ist am Nachmittag Jean Huss mit seinem Thema „The potential dangers of electromagnetic fields and their effect on the environment“ dran. Unterstützung holt sich der Luxemburger von seinem Landsmann Ralf Baden, den kennen wir bereits, und den auf der Agenda als Professor geführten Dr. Ulrich Warnke von der Universität des Saarlands. Bereits im Dezember 2009 war von Dr. Warnke auf der Website der Universität des Saarlands allerdings keine Spur mehr zu finden, vieles deutet darauf hin, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits im Ruhestand war.
Auch Dr. Warnke ist seit langem in der Szene der Mobilfunkkritiker eine feste Größe, er wird, obwohl seine Ausführungen kaum ein Laie versteht, gerne als Referent zu Veranstaltungen von Mobilfunkkritikern eingeladen. Laut Warnke macht Mobilfunk durch „induzierten nitrosativen und oxidativen Stress“ krank. Doch dem gebürtigen Sachsen bleibt die Anerkennung durch Fachkreise versagt. Der Grund ist simpel: Der Biophysiker referierte über seine Thesen zur biologischen Wirkung schwacher Funkfelder ausschließlich vor Laien, nicht aber auf Fachkongressen und in den Fachmagazinen der Fachwelt. Die vielfältigen Interessen Wankes führen ihn auch auf das Gebiet der Esoterik, die Website „Esowatch“ hat ihm deshalb eine Seite gewidmet, wie sie kein seriöser Wissenschaftler gerne sehen mag. Auch kommerzielle Aspekte mit Therapie-Geräten kommen dort zur Sprache. Warnke hat keine Scheu, in seinen Veröffentlichungen Arbeiten zweifelhafter Reputation zu zitieren, etwa die verwegene These eines Schweizers, Maikäfer würden ihre Ruhestellung nach den Interferenzmustern von Gravitationswellen ausrichten [17].
► Februar 2011
Bundesregierung sagt ...“Der Resolution des Europarates liegen keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse oder Studienergebnisse zugrunde. In seiner Bewertung bezieht sich der Europarat überwiegend auf die Ergebnisse des BioInitiativereports, der nicht die Kriterien und Vorgehensweisen von wissenschaftlichen Fachgremien erfüllt. Reviews und Stellungnahmen von nationalen wie auch internationalen Expertengremien, die wissenschaftlich etablierte Qualitätskriterien erfüllen, werden hingegen nicht berücksichtigt. Die Deutsche Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine kleine Anfrage der “Grünen” [11]. |
Drei der Experten lassen sich den Mobilfunkgegnern zuordnen, zwei den Befürwortern.
Prof. Belpomme erregte zuletzt Aufsehen mit der Behauptung, er könne „Elektrosensibilität“ objektiv diagnostizieren. Er verwendet dazu eine Technik namens Encephaloscan, die so unorthodox ist, dass sie ebenfalls in „Esowatch“ Eingang gefunden hat. Der Franzose trat Ende April 2011 als Referent in Bern, Schweiz, auf dem “Gigaherz-Kongress” auf, einem Jahrestreffen von überzeugten Elektrosensiblen, Nutznießern der Elektrosmog-Debatte und Sendemastengegnern. Der Standpunkt von Prof. Belpomme in der Mobilfunkdebatte ist daher mühelos ersichtlich. Ebenso bei Etienne Cendrier, der als Sprecher einer Bürgerbewegung gegen Mobilfunk in Paris antrat. Etwas schwieriger ist der dritte Mobilfunkkritiker auszumachen. Es ist David Gee. Sein Zuschlag ins Lager der Kritiker erfolgt nicht wegen seiner Zugehörigkeit zur Europäischen Umweltagentur, sondern weil Gee einer der Autoren des Berichts der sogenannten BioInitiative ist. Diese Initiative mobilfunkkritischer Wissenschaftler hat sich 2007 auf Betreiben der US-amerikanischen Baubiologin Cindy Sage zusammengefunden, um dem angestaubten Salzburger Milliwatt neues Leben einzuhauchen.
► April 2011
Von nun an ging es schnell: Am 11. April 2011 verabschiedete der Ausschuss „Umwelt und Landwirtschaft, kommunale und regionale Angelegenheiten“ einstimmig den von Jean Huss vorgelegten Entwurf für die Resolution „The potential dangers of electromagnetic fields and their effect on the environment“.
► Mai 2011
Rund drei Wochen später, am 6. Mai, erreichte der so abgesegnete Entwurf als Dokument 12608 die PACE, deren Ständiger Ausschuss am 27. Mai daraus die „Resolution 1815“ machte. Jean Huss hat sein Ziel erreicht. Gerade noch, denn schon rund vier Monate später sollte er aus dem Europarat ausscheiden.
Vernetzung des Berichterstatters mit der Risikoszene
Die Berührungspunkte von Jean Huss mit einigen bekannten Vertretern der Risikoszene wie Dr. med. G. Oberfeld, Dr. U. Warnke oder Prof. D. Belpomme wurden bereits weiter oben angesprochen. Ein weiterer bekannter Weggefährte ist der Umweltmediziner Dr. med. Joachim Mutter. Dieser engagieren sich wie Huss gegen Dentalamalgam, z.B. als Referenten auf dem Amalgam-Kongress 2007 in Luxemburg [13]. Zahnärzte sind jedoch noch immer begeistert von den hervorragenden Materialeigenschaften des Dentalamalgams. Sollte dieses preisgünstige Material jemals verboten werden, wie Huss und Mutter es anstreben, wäre dies zugunsten des Absatzes von erheblich teurerem Keramikmaterial. Wissenschaftliche Belege für eine systematische Schädigung der Gesundheit durch Amalgam gibt es trotz lang andauernder Amalgam-Debatte bis heute nicht [18].
Dr. Mutter betreibt in Brasilien eine sogenannte Entgiftungsklinik mit rund 30 Betten. Zahlungskräftige Privatpatienten können sich dort von Alternativmedizinern behandeln lassen. Die Klinik wird auch als “Funklochklinik” bezeichnet, weil überzeugten Elektrosensiblen dort eine elektrosmogfreie Umgebung versprochen wird. Im Jahr 2011 trat Dr. Mutter im Dunstkreis des brasilianische Geistheilers João de Deus in Österreich auf [14].
Fast schon wie eine mit Huss abgesprochne Aktion wirkt die folgende Presse-Information, die 20 Tage vor der Resolution 1815 das Licht der Welt erblickte und zeigt, dass die Risikoszene aus den Hinterzimmern heraus in die Salons drängt: “Selbsthilfegruppen und Organisationen von Umweltkranken aus verschiedenen europäischen Ländern schlossen sich am Freitag in Würzburg zu einem europaweiten Dachverband zusammen. Gleichzeitig gründeten Baubiologen aus Europa ein eigenes Spezialistennetzwerk. Initiiert wurden die neuen Gremien von der European Academy for Environmental Medicine (EUROPAEM), die vom 6. bis 8. Mai in Würzburg ihren internationalen Jahreskongress ausrichtet.” Urheber der Presse-Information ist der 2003 gegründete Würzburger Verein “Europaem”, mit Dr. med. Kurt E. Müller als ersten und Jean Huss als zweiten Vorsitzenden [16].
Erklärungsmodell für das Motiv
Wie kann so etwas wie die Resolution 1815 überhaupt passieren. Und warum wird es wieder passieren? Die nachfolgend angebotene Erklärung dafür ist ein Modell, das nicht aus der Luft gegriffen ist. Es beruht auf Beobachtungen und konkreten Hinweisen, die über Jahre hinweg im IZgMF-Forum zusammen getragen wurden, und aufaddiert einen begründeten Verdacht ergeben:
Die Angst vor Elektrosmog sichert einer ganzen Reihe von Branchen Umsätze, etwa der Baubiologie, dem Messgerätebau, der Esoterik und der Alternativmedizin. Je stärker die Angst in der Bevölkerung verbreitet ist, desto höher die Umsätze. Auch die Tabakindustrie profitiert, wenn gezielt injizierte Ängste gegenüber Funk die Sorgen gegenüber dem Rauchen maskieren. Es gibt somit einige plausible Motive, die Angst vor Funkwellen mit einer ganzen Reihe von Akteuren offen und verdeckt zu fördern. Zu den Akteuren zählen einzelne Frontleute organisierter Mobilfunkgegner, mindestens ein Anti-Mobilfunk-Verein und zahlreiche “nützliche Idioten”.
Von wissenschaftlich seriöser Seite haben die Nutznießer der Elektrosmog-Angst wenig Unterstützung zu erwarten, das weltweit größte Forschungsprogramm zu biologisch unerwünschten Nebenwirkungen des Mobilfunks (Deutsches Mobilfunk Forschungsprogramm) hat 2008 viele Wissenslücken gefüllt, und im wesentlichen Entwarnung gegeben. Ersatzweise versuchen Elektrosmog-Profiteure die Politik als gesellschaftliche Kraft zu nutzen.
Politiker sind keine Bioelectromagnetics-Wissenschaftler, sondern in aller Regel fachliche Laien, die sich von vermeintlichen Experten und Pseudowissenschaftlern leichter unter Druck setzen lassen, und eingeflüsterte Forderungen auf die politische Bühne bringen. Gemeinsamer Nenner all dieser Forderungen: sie nutzen den Profiteuren. Echte Experten, echte Wissenschaftler und die staatliche Aufsicht (Bundesamt für Strahlenschutz) werden vorsorglich durch einen Wust von Unterstellungen diskreditiert (Beispiel). Das Deutungsmonopol für biologische Risiken des Elektrosmogs soll auf diese Weise exklusiv den Vertretern der Profiteure vorbehalten bleiben. Von Unbeteiligten werden diese selbstverständlich so nicht wahrgenommen, sondern als engagierte dem Gemeinwohl verpflichtete Mobilfunkkritiker.
Ziel aller Aktionen ist das Schüren oder Wecken von Angst vor Elektrosmog in der Bevölkerung. Deshalb können auch – wie bei der Resolution 1815 geschehen – absurde Forderungen wie die Schaffung von Schutzzonen für Elektrosensible gestellt werden. Das ist schlicht Marketing. Realitätsnähe und Erfüllbarkeit gestellter (politischer) Forderungen sind von nebensächlicher Bedeutung, wichtiger ist das Potenzial einer Forderung, die Angstbotschaft “Funk macht krank” in den Köpfen zu verankern. Die Branchen der Nutznießer sorgen dann dafür, dass den Menschen, die auf den Beschuss durch Angstbotschaften wunschgemäß reagiert haben, die Angst wieder genommen wird – gegen Bezahlung selbstverständlich.
Quellen
[1] Das Handy nicht zu lange nahe beim Kopf halten. Lëtzebuerger Journal (Luxemburg), 12.05.2011
[2] Wikipedia
[3] Grüne lassen Grenzwerte im Mobilfunk hinterfragen
[4] Mobilfunkversorgungskonzept der Stadt Erkrath (PDF)
[5] http://www.izgmf.de/scripts/forum/index.php?id=47857
[6] http://www.izgmf.de/scripts/forum/index.php?id=47711
[7] http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/SPET/SPET_00202/fnameorig_250756.html
[8] http://www.buergerwelle.de:8080/helma/twoday/bwnews/20110527/
[9] http://www.diagnose-funk.org/politik/politik-int/europarat-fordert-kurswechsel.php
[10] http://derstandard.at/1304553088426/Strahlung-Europarat-will-WLAN-aus-Schulen-verbannen
[11] Drucksache 17/6709
[12] http://www.anne-franke.de/wp-content/uploads/2011/06/110525_an_Landtagsabgeordnete.pdf
[13] http://www.amalgam-informationen.de/news.htm
[14] http://www.izgmf.de/scripts/forum/index.php?mode=thread&id=45165
[15] http://www.fatigatio.de/fileadmin/docs/Presse/Europeam_Pressemitteilung.pdf
[16] http://www.europaem.eu/1_about_academy.html
[17] Gravitationswellen dirigieren Maikäfer in bequeme Stellung
[19] http://www.izgmf.de/scripts/forum/index.php?mode=thread&id=50079
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