Verbrieftes Recht, öffentlich Stuss behaupten zu dürfen (Esoterik)

H. Lamarr @, München, Freitag, 22.01.2016, 22:46 (vor 3234 Tagen)

[Posting verschoben am 20.03.2018, Absprung hier]

Nun gibt es zwar keinen Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg aber einen europäischen. Und der hat tatsächlich im August 1998 einen Fall Hertel vs. Schweiz verhandelt. Das Urteil ist im Volltext hier abzurufen (Word-Datei, 43 Seiten, englisch).

Mit 6:3 Richterstimmen erstritt Hertel, dass es in seinem Fall tatsächlich zu einer Verletzung seines Rechts auf Meinungsfreiheit gekommen war.

Wem die 43 Seiten englisch zu mühsam sind: Nachfolgend eine Kurzform des Urteils des EGMR, formuliert von einem österreichischen Gericht:

Es kann nicht Aufgabe eines Ehrenbeleidigungsprozesses sein, einen in der Fachwelt strittigen "Schulenstreit" zu entscheiden (vgl 6 Ob 10/99k). In einem solchen Fall kommt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung übergeordnete Bedeutung zu (Urteil vom 25. 8. 1998, Nr 59/1997/843/1049 "Hertel", veröffentlicht in ÖJZ 1999, 614). Der Gerichtshof hielt das Verbot der Behauptung, die in Mikrowellenherden zubereitete Nahrung sei gesundheitsschädlich, für eine in der demokratischen Gesellschaft nicht notwendige Maßnahme.
Selbst wenn von der Äußerung die wirtschaftlichen Interessen eines Unternehmens im Wettbewerb massiv betroffen seien, dürfe keine Zensur ausgeübt und die im Allgemeininteresse geführte öffentliche Diskussion über die Volksgesundheit nicht eingeschränkt werden, auch wenn die bekämpfte Ansicht "eine Minderheitenmeinung ist und inhaltlich unberechtigt scheinen mag".
Ausgehend von diesen klaren Aussagen des EGMR, die die nationalen Gerichte zu beachten haben, ist die Entscheidung des Berufungsgerichtes frei von Rechtsirrtum.

Der EGMR sanktioniert damit in Europa das Recht, risikolos öffentlich Stuss zum wirtschaftlichen Nachteil anderer behaupten zu dürfen. Im konkreten Fall müssen Hersteller von Mikrowellenherden den von Herrn Hertel behaupteten Stuss, der seit 1998 nichts an Intensität eingebüßt hat, zähneknirschend hinnehmen. Für Leute wie den Ex-Elektriker Hans-U. Jakob oder den Ex-Professor Klaus Buchner und einige andere Mobilfunkgegner ist dieses Urteil ein Freibrief, risikolos Stuss über angeblich verheerende Folgen der Mobilfunktechnik verbreiten zu dürfen. Stuss verbreiten oder öffentlich Lügen, um Menschen gezielt in Angst & Schrecken zu versetzen, ist vom Recht der freien Meinungsäußerung gedeckt.

Da hat uns der EGMR ja was eingebrockt!

Aus meiner Sicht haben sechs der neun Richter 1998 etwas nicht auf dem Schirm gehabt, nämlich das Vordringen des Internets in die Wohnzimmer der Welt. Schwätzer und Lügner hat es schon immer gegeben, zu keiner Zeit aber hatten sie es so einfach, der gesamten Menschheit ihren Bullshit hübsch verpackt in Geschenkpapier über DSL oder LTE anzudienen. Mal aus ideologischen Gründen, mal aus profilneurotischem Geltungsdrang, meist aber getrieben von kommerziellem Interesse. Die Mobilfunkdebatte ist ein typisches Beispiel dafür, ohne Internet gäbe es weder diese unselige Debatte noch sogenannte "Elektrosensible". Da der Mist nicht verboten werden kann, muss es Stimmen geben, die Arglose vor dem Auspacken der anrüchigen IP-Geschenkpakete warnen. Nachhaltiger wäre, das Fach "Stuss & Manipulation erkennen" in den Schulen als Pflichtfach oder Erste-Hilfe-Kurs einzurichten, um kommende Generationen besser zu Immunisieren.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Manipulation, Hertel, EGMR

Hertel vs. Schweiz, 1998

H. Lamarr @, München, Dienstag, 20.03.2018, 16:43 (vor 2446 Tagen) @ H. Lamarr

Wem die 43 Seiten englisch zu mühsam sind: Nachfolgend eine Kurzform des Urteils des EGMR, formuliert von einem österreichischen Gericht:

Das Österreichische Institut für Menschenrechte bringt auf deutsch eine umfassendere Kurzform der Auseinandersetzung Hertel vs. Schweiz einschließlich der Schilderung des Sachverhalts.

HERTEL gegen die Schweiz

Urteil vom 25. August 1998

Unlauterer Wettbewerb und Recht auf freie Meinungsäußerung

Art. 6 (1) EMRK
Art. 8 EMRK
Art. 10 EMRK

Sachverhalt:
Der Bf. [Beschwerdeführer, Anm. Spatenpauli] ist freiberuflich in der biologischen Umweltforschung tätig. Er verfasste gemeinsam mit einem Professor des Bundesinstituts für Technologie in Lausanne einen Bericht mit dem Titel "Vergleichende Untersuchungen über die Beeinflussung des Menschen durch konventionell und im Mikrowellenofen aufbereitete Nahrung". Im Bericht wurde ua. ausgeführt, dass die im Blut der Versuchspersonen festgestellten Veränderungen auf krankhafte Störungen hinwiesen und ein Bild zeigten, das auch für den Beginn eines kanzerogenen Prozesses gelten kann. Im Jahr 1992 wurde der Forschungsbericht in einer Fachzeitschrift publiziert. Der Bericht war auf dem Titelblatt mit der Überschrift "Mikrowellen: Gefahr wissenschaftlich erwiesen!" und mit der Abbildung eines den Tod darstellenden Sensenmannes, der einen Mikrowellenherd trägt, angekündigt; unter dem Titel "Der vollständige Rapport der Untersuchung" wurde der Forschungsbericht abgedruckt. In weiterer Folge distanzierte sich der Mitautor des Forschungsberichtes von den Veröffentlichungen des Bf. Am 7.8.1992 reichte der Fachverband Elektroapparate für Haushalt und Gewerbe in der Schweiz (im folgenden: FEA) beim Handelsgericht des Kantons Bern Klage gegen den Bf. ein. Mit Urteil vom 19.3.1993 verbot das Handelsgericht dem Bf. ua., die Behauptung aufzustellen, im Mikrowellenherd zubereitete Speisen seien gesundheitsschädlich und führten zu Veränderungen im Blut ihrer Konsumenten, welche auf eine krankhafte Störung hinweisen und ein Bild zeigten, das für den Beginn eines kanzerogenen Prozesses gelten könnte. Die dagegen erhobene Berufung an das Bundesgericht wurde am 19.3.1993 abgewiesen.

Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung), Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung der Privatsphäre) sowie von Art. 6 (1) EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

1.) War der Eingriff vom Gesetz vorgesehen?

Der Bf. behauptet, dass der Eingriff nicht vom Gesetz vorgesehen war, weil er nicht vorhersehbar war. Nach seiner Auffassung findet das von den innerstaatlichen Gerichten angewendete Bundesgesetz gegen den Unlauteren Wettbewerb (im folgenden: UWG) auf ihn keine Anwendung, da die ihm untersagten Äußerungen in ideeller Zielsetzung, zur Wahrung öffentlicher Gesundheitsinteressen, und nicht im Wettbewerbsbezug erfolgt seien.
Eine Norm kann dann nicht als Gesetz iSv. Art. 10 (2) EMRK angesehen werden, wenn sie nicht derart präzise formuliert ist, dass der Bürger sein Verhalten danach einrichten kann; er muss - ggf. aufgrund entsprechender Beratung - in der Lage sein, die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit zu erkennen. Gemäß Art. 2 UWG ist jedes gegen Treu und Glauben verstoßende Verhalten oder Geschäftsgebaren unlauter, welches das Verhältnis zwischen Mitbewerbern oder zwischen Anbietern und Abnehmern beeinflusst. Darüber hinaus handelt nach Art. 3 UWG unlauter, wer andere, ihre Waren, Werke, Leistungen, deren Preise oder ihre Geschäftsverhältnisse durch unrichtige, irreführende oder unnötig verletzende Äußerungen herabsetzt.
Der Begriff des Verhaltens in Art. 2 UWG umfasst auch wettbewerbsrelevante Handlungen Dritter, die nicht unmittelbar - als Wettbewerber oder Kunden - in das Spiel der Konkurrenz eingreifen. Eine Herabsetzung gemäß Art. 3 UWG kann demnach auch durch Personen, Organisationen oder Verbände, die nicht selbst Mitbewerber sind, begangen werden. Der Eingriff war demnach vom Gesetz vorgesehen.

2.) Verfolgte der Eingriff einen legitimen Zweck?

Das UWG bezweckt, den lauteren und unverfälschten Wettbewerb im Interesse aller Beteiligten zu gewährleisten. Die Urteile der innerstaatlichen Gerichte sollten die Interessen der Mitglieder der FEA schützen. Der Eingriff verfolgte den Schutz der Rechte anderer iSv. Art. 10 (2) EMRK.

3.) War der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig?

Das Adjektiv notwendig iSv. Art. 10 (2) EMRK bedeutet das Vorliegen eines dringenden gesellschaftlichen Bedürfnisses. Die Vertragsstaaten haben einen gewissen Ermessensspielraum bezüglich der Frage, ob ein solches Bedürfnis vorliegt. Ein solcher Ermessensspielraum erschient in wirtschaftlichen Fragen wesentlich, va. dann, wenn es sich um einen so komplexen und in Bewegung befindlichen Bereich wie den des Unlauteren Wettbewerbs handelt. Dieser Ermessensspielraum muss jedoch beschränkt werden, da es sich im vorliegenden Fall nicht um rein wirtschaftliche Äußerungen handelte, sondern um die Teilnahme an einer allgemeinen Diskussion über öffentliche Gesundheitsinteressen. Der Bf. hat im vorliegenden Fall nur eine Kopie seines Forschungsberichts an eine Fachzeitschrift geschickt. Er war weder an der Herausgabe der Zeitschrift noch an der graphischen Gestaltung des Beitrags beteiligt. Zwar wäre die Wiedergabe der in diesem Beitrag gemachten Äußerungen sehr wohl geeignet, einen negativen Einfluss auf den Verkauf von Mikrowellenherden in der Schweiz zu haben. Jedoch wird festgestellt, dass die Fachzeitschrift in einer Auflage von 120.000 Stück erscheint und sich mit Umwelt- und Gesundheitsfragen beschäftigt. Die Auflage wird beinahe vollständig durch Abonnements von einem kleinen Leserkreis bezogen. Der Einfluss von in einem solchen Medium gemachten Äußerungen ist demnach ein beschränkter. Auch das Erstgericht bezweifelte, dass die Veröffentlichung in dieser Form einen messbaren Einfluss auf den Verkauf von Mikrowellenherden in der Schweiz habe. Unter diesen Umständen war die getroffene Maßnahme unverhältnismäßig im Hinblick auf das Verhalten des Bf. Falls der Bf. seine Ansichten wiederholte, würde dies Geld- oder sogar Freiheitsstrafen nach sich ziehen. Die Maßnahme kann demnach nicht als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig angesehen werden. Verletzung von Art. 10 EMRK (6:3 Stimmen, Sondervoten der Richter Bernhardt, Matscher und Toumanov).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzungen von Art. 6 (1) EMRK und von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Hintergrund
Hans Ulrich Hertel bei Psiram

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Hertel vs. Schweiz: Was Gigaherz-Jakob daraus machte

H. Lamarr @, München, Montag, 06.03.2023, 00:24 (vor 635 Tagen) @ H. Lamarr

HERTEL gegen die Schweiz

Urteil vom 25. August 1998

Selbstverständlich kam Gigaherz-Jakob an dem Urteil nicht vorbei. Am 29. September 1999 glaubte er zu wissen, dass dem erfolgreichen Kläger Hertel durch den unterlegenen Beklagten Schweiz aus Rache hinterrücks weiteres Ungemach zugefügt werden sollte. Jakob tat seinen Lesern damals kund:

[...] DIE VON DER WIRTSCHAFT INFILTRIERTEN BUNDESBEHOERDEN machen nun gegen Hertel erneut mobil. Sie weigern sich stur, die Hertel zustehende Entschädigung von Fr. 400'000.- zu bezahlen. Eigenmächtig reduzierten sie den Betrag auf Fr. 40'000, also auf 10% der Schadenssumme Hertels. Ein erneuter Gerichtsgang in Strasburg ist angelaufem und renomierte Staatsrechtler sagen voraus, dass die Schweiz NOCHMALS AUF RANG 2 landen wird. [...]

Aus welchen Fingern er sich den Quatsch saugte hat er quellenscheu nie verraten. Dass er schon damals mit der Orthografie beträchtliche Schwierigkeiten hatte ist ersichtlich, dass er auch inhaltlich Blödsinn verbreitete zeigt ein Blick in das Urteil, in dem es am Schluss glasklar heißt:

For these reasons, the court

1. Holds by six votes to three that there has been a violation of Article 10 of the Convention;

2. Holds unanimously that it is unnecessary to consider the complaints under Article 6 § 1 and Article 8 of the Convention;

3. Holds by eight votes to one

(a) that the respondent State is to pay the applicant, within three months, 40,000 (forty thousand) Swiss francs for costs and expenses;

(b) that simple interest at an annual rate of 5% shall be payable on that sum from the expiry of the above-mentioned three months until settlement;

4. Dismisses unanimously the remainder of the claim for just satisfaction.

Hertel ließ Jakob seinerzeit sehr schnell eine Berichtigung zukommen, die der am 30. September 1999 nachträglich kommentarlos unter seine Falschmeldung klemmte.

Weil das alles für ihn eher peinlich war, ließ Jakob den unglücklichen Beitrag bei einer optischen Erneuerung seines Webauftritts diskret unter den Tisch fallen. Auf der Gigaherz-Website sucht man ihn deshalb heute vergeblich. Das Web-Archiv aber hat das Kunstwerk an Desinformation noch auf Lager.

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Tags:
Jakob, Recht, Täuschung, Irreführung, Urteil, Gigaherz-Präsident, Hertel

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