"Was wir nicht sehen": Film-Testgelände Österreich (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Dienstag, 02.02.2016, 21:01 (vor 3223 Tagen)

Was haben die armen Österreicher nur verbrochen? Am 19. Februar 2016 läuft in der Alpenrepublik der Anti-Mobilfunk-Film "Thank you for calling" an, ein als Dokumentation getarnter Katastrophenfilm, der unvorbereitete Zuschauer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sauber einseift.

Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, kriegen die Österreicher ab 12. Februar 2016 auch noch das Elektrosensiblen-Drama "Was wir nicht sehen" aufgebrummt. Das entstand zwar schon 2014 und war auf diversen Filmfestivals zu sehen, ins Kino aber kommt es erst jetzt. Aus meiner Sicht 50 Jahre zu früh.

Alles was recht ist, für mich sieht das nach einem Knock-out für den einen oder anderen Ösi aus, gerade rechtzeitig, denn um die Anti-Mobilfunk-Szene in Österreich steht es schließlich seit Jahren sehr, sehr schlecht. Sie kann Hilfe gut gebrauchen. Und wenn sich die Österreicher gut über den Tisch ziehen lassen, dann auf nach Deutschland. Immerhin kommt aus Erfurt der Fall der Ergotherapeutin "Clarissa", die im wirklichen Leben aber Ulrike heißt.

Wer sich für die üppige Pressemappe zu "Was wir nicht sehen" interessiert, der kann diese <hier> abholen (PDF, 18 Seiten).

[image]Der künstlerische Wert des Films ist mir reichlich egal, mich interessieren nur die Hintergründe der Filmemacherin, sich an dem Thema "überzeugte Elektrosensible" zu vergreifen. Hat sich Anna Katharina Wohlgenannt (Foto) kompetent informiert und berichtet sie aus kritischer Distanz über Elektrochonder? Oder hat sie sich dem Rausch der Sinne hingegeben und all den hinlänglich bekannten Blödsinn eingesammelt, den Stammleser dieses Forums aus dem FF kennen? Der folgende Auszug aus dem "Regiestatement" der Pressemappe gibt Auskunft:

In den Begegnungen mit ihnen ["Elektrosensible", Anm. Spatenpauli] wurde mir sehr schnell eines klar: Diese Menschen leiden nicht nur unter der Strahlung, sie leiden auch an einem Mangel an Akzeptanz. Ihnen wird unterstellt, dass sie nur die Angst vor dem unbekannten physikalischen Phänomen krank macht, nicht aber die Wellen selbst. Und das, obwohl deutliche Indizien den Schluss zu lassen, dass doch mehr dahinter steckt: Immerhin hat die Internationale Krebsforschungsagentur der WHO elektromagnetische Wellen als "möglicherweise krebserregend" eingestuft. Zudem sah sich die Österreichische Ärztekammer veranlasst zu empfehlen, dass Kinder unter 16 - weil hochfrequenter Strahlung gegenüber empfindlicher als Erwachsene - nur im Notfall mit dem Handy telefonieren sollen. Und vor nicht allzu langer Zeit hat das italienische Höchstgericht bestätigt, dass exzessives Telefonieren mit Handy und Schnur lostelefon zu 80 %-iger Invalidität führen kann.

Tja, was soll man dazu noch sagen ... Das ist, mit Verlaub, alles nur Käse, nichts davon hat auch nur die Bohne mit behaupteter "Elektrosensibilität" zu tun.

Ich fürchte, Frau Wohlgenannt will sich mit ihrem Film profilieren, ist sich jedoch nicht im Klaren darüber, was für einen Schaden sie damit bei psychisch labilen Menschen anrichten kann, die sich selbst in einer subjektiv empfundenen emotionellen Notlage sehen und von der Modekrankheit "Elektrosensibilität" angezogen fühlen. Wenn es dumm läuft, trägt die Filmemacherin mit dazu bei, die Phobie "Elektrosensibilität" ein Stückchen salonfähiger zu machen und die Betroffenen durch unqualifiziers Beipflichten, die Phobie sei in Wahrheit keine, sondern eine physische Körperreaktion, von fachärztlich angemessener (seriöser) psychischer Behandlung zu entfremden. Diese fatale Verdrehung (Physis statt Psyche) kennen wir hier alle zur Genüge, auch, dass bisher kein einziger überzeugter Elektrosensibler seine behauptete unerwünschte Fähigkeit zur Feldwahrnehmung unter Beweis stellen konnte. Genauer: Kein "Elektrosensibler" bestand strenge wissenschaftliche Tests; die Ausreden fürs Scheitern füllen Bände.

Vermutlich hat die Regisseurin keine Ahnung vom Schicksal des Pfarrers H., der 2006 mit "Elektrosensibilität" angesteckt wurde und 2013 durch Freitod daran zugrunde ging. Ich wünsche Anna Katharina Wohlgenannt und der Produzentin Claudia Wohlgenannt, dass sie sich nicht einmal schwere Vorwürfe machen müssen, weil sie nur das gesehen haben, was sie sehen wollten.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Oesterreich, Filmfestival, Filmemacher, Wahrscheinlichkeit, Propagandafilm


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