12 Große Literaturstudie beunruhigt Drucker im Ruhestand (Allgemein)
Mit beträchtlichem Rummel haben der Naturschutzbund (Nabu) Baden-Württemberg und der Anti-Mobilfunk-Verein Diagnose-Funk am 17. September 2020 eine Literaturstudie vorgestellt, die eine biologische Schadwirkung elektromagnetischer Felder auf Insekten gefunden haben soll. Einige Medien bevorzugt in Baden-Württemberg berichteten. Die Pressemitteilung zum Ereignis zitiert Peter Hensinger mit den Worten: "Es ist beunruhigend, dass bereits geringe Strahlenbelastungen weit unterhalb der Grenzwerte Insekten schädigen." Studienautor Alain Thill konnte demnach einen gelernten Drucker beunruhigen. Doch gelingt ihm das auch bei härteren Nüssen?
SWR-Wissenschaftsredakteur Uwe Gradwohl hat sich die Mühe gemacht, die knapp 30 Seiten umfassende Studie zu lesen. Sein Fazit widerspricht der dramatischen Pressemitteilung deutlich. Gradwohl sagt am Ende seines studienkritischen Podcasts: "Die Art und Weise wie mit dieser Studie durch die Auftraggeber Naturschutzbund Baden-Württemberg und Diagnose-Funk e.V. verfahren wurde, nährt bei mir den Eindruck, als ob hier schlichtweg das bereits prominente Thema Insektensterben für die Zwecke der Mobilfunkskeptiker gekapert werden sollte. Zuverlässig informiert fühlte ich mich bezüglich dieser Studie nicht, sie aber jetzt hoffentlich schon."
Gradwohls Podcast dauert nur 4½ Minuten, die aber genügen ihm, um Diagnose-Funk und Nabu wegen ihrer unqualifizierten Pressemitteilung als Marktschreier abzukanzeln. Die Begründungen dafür liefert das Transcript seines Podcasts:
Der Naturschutzbund Baden-Württemberg, kurz Nabu, und der Verein Diagnose-Funk kündigten in ihrer Pressemitteilung eine sogenannte Metastudie an, deren Autor 190 Einzelstudien gesichtet habe, um die Wirkung von Mobilfunk und W-Lan-Strahlung auf Insekten bewerten zu können. Bei der Pressekonferenz wird dann schnell klar: Es sind nicht 190, es sind 83. Okay, Schwamm drüber, kann passieren. Von den 83 Studien haben demnach 72 Anzeichen für Veränderungen im Stoffwechsel und im Verhalten von Insekten gefunden. Ja, das haben sie, aber liest man genau nach stellt man fest, die 72 Studien wurden von nur 26 unterschiedlichen Forscherinnen und Forschern geleitet. Das kann zu einer sogenannten Publikationsverzerrung führen. Aber da kommen wir gleich noch drauf. Schauen wir uns stattdessen das nächste Statement in der Pressemitteilung an. Nach Auswertung der 83 Studien stünde fest, dass Mobilfunk- und W-Lan-Strahlung den Fluss von Calciumionen im Insektenkörper so beeinflussen, dass deren Orientierung und Reproduktion darunter leidet. Nein, für dieses Ergebnis ist nicht die Auswertung aller 83 Studien verantwortlich, nur der kleinere Teil der 26 Forscher hat Arbeiten vorgelegt, die sich molekularbiologischen Fragen widmen. Und die Gesamtschau der Studien hat der Forschungslage keine neue Erkenntnis hinzugefügt. Was aber in der Pressemitteilung so geschrieben steht. Die vorgelegte Studie hat überhaupt nicht versucht die Ergebnisse einzelner Studien so zusammenzuführen, dass in der Gesamtschau ein neues Ergebnis sichtbar werden könnte. Die Mobilfunk-Insektenstudie von Nabu und Diagnose-Funk listet lediglich die experimentellen Ansätze von 26 Forscherinnen und Forschern und deren Forschungsergebnisse in Ultrakurzform auf. Sie ist also bestenfalls eine Übersicht der Forschungslage. Und das schreibt der Autor auch selbst.
Und weiter: Er habe gar keine Übersichtsanalyse erstellen können, weil die dafür notwendigen statistischen Angaben nur bei einer handvoll der analysierten Studien vorlägen. Und: Die von ihm betrachteten Einzelstudien kämen in vielen Fällen zu Ergebnissen, die erst noch von anderen Teams repliziert werden, also bestätigt werden müssten. Der Autor sagt auch, dass er aus demselben Grund, den von ihm aufgeführten statistischen Mängeln, die Publikationsverzerrung nicht ermitteln konnte. Das meint folgendes: Studien, die einen Effekt von Mobilfunkstrahlung auf Insekten finden, werden meist auch publiziert. Studien, die jedoch keinen Effekt finden, werden oft gar nicht bis zur Publikation zu Ende geführt. Das verzerrt den Blick auf die tat, sächliche Forschungslage. Das Ausmaß dieser Verzerrung konnte in der Mobilfunk- und Insektenstudie von Nabu und Diagnose-Funk aber nicht bestimmt werden, weil Daten fehlen, sagt der Autor. Sagen uns aber nicht seine Auftraggeber. Weiter: Die Aussagen zur Schädlichkeit der Strahlung leiden nach Angaben des Autors darunter, dass die Mehrheit der Studien nicht nach den üblichen Sorgfaltskriterien durchgeführt wurde. Oha!
Fazit: Es gab keine Möglichkeit die Daten der Einzelstudien zu einer Metaanalyse zusammenzuführen. Die Abschätzung der Publikationsverzerrung war nicht möglich. Der Autor schreibt von Einschränkungen bezüglich der Verlässlichkeit, mit der schädigende Effekte nachgewiesen werden konnten. Demgegenüber postulieren die Auftraggeber in ihrer Pressemitteilung, dass diese Studie erstmals aufzeige, dass Mobilfunkstrahlung ein wichtiger Faktor bei der Erklärung des Insektensterbens sein könnte.
Was bleibt mir? Der Eindruck, dass hier einfach mal alles gebündelt wurde, was an Studien zum Thema Elektromagnetismus und Insekten in den letzten Jahrzehnten entstanden ist. So eine Bündelung kann zusammen mit der entsprechenden Pressemitteilung schon mal mediale Wirkung erzielen. Und dann hat man sich aber noch dazu verstiegen den Eindruck zu erwecken, als ob die Bündelung grundsätzlich Neues hinsichtlich der Ursachen des Insektensterbens aufzeigen würde. Tut sie aber nicht.
Hintergrund
Alain Thill: Von der Masterarbeit zur Metastudie
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
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