Umgang mit Nichtwissen als gesellschaftliche Herausforderung (Forschung)

Gast, Freitag, 24.03.2023, 00:34 (vor 372 Tagen)

Das Hintergrundpapier Nr. 23 des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) behandelt Fragen des guten gesellschaftlichen Umgangs mit explorativen Experimenten am Beispiel der drei Forschungsfelder Grüne Gentechnik, Fracking und Meeresdüngung mit Eisen. Anhand der Ergebnisse der Betrachtung sollten sich auch Rückschlüsse auf andere Risikotechnologien wie den ebenfalls explorativ erforschten öffentlichen Mobilfunk ziehen lassen.

Wissenschaftliche Experimente im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Technologien lassen sich häufig nicht auf Labore mit kontrollierbaren Bedingungen beschränken, sondern finden als Realexperimente in der Umwelt bzw. der Gesellschaft statt. Solche explorativen Experimente werden sowohl im Zuge von Erstentwicklungen als auch im Rahmen von Folgeanwendungen von Technologien durchgeführt.

Unsicheres Wissen bzw. Nichtwissen, das Ursache, Triebfeder und inhärenter Bestandteil aller wissenschaftlichen Forschung ist, erhält beim Übergang vom Forschungslabor in die Welt eine größere Tragweite, da negative Auswirkungen dort viel schwieriger zu kontrollieren sind. Dies wirft die Frage nach einem guten gesellschaftlichen Umgang mit unvermeidbarem Nichtwissen und den damit verbundenen Unsicherheiten über die möglichen Folgen von Realexperimenten auf.

Das Hintergrundpapier Nr. 23 (Volltext, 248 Seiten, deutsch) befasst sich auf Anregung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung mit der Frage, wie mit diesem Dilemma umgegangen werden kann – dem Dilemma, einerseits auf wissenschaftliche Experimente angewiesen zu sein, um Wissen zu generieren, Wissenslücken zu schließen und Veränderungen und Innovationen voranzubringen, und andererseits beim Experimentieren unweigerlich mit Nichtwissen über mögliche unerwünschte Folgen für Natur und Gesellschaft konfrontiert zu werden.

Für den Umgang mit diesem Spannungsfeld werden im vorliegenden Hintergrundpapier zwei Heuristiken – die Methode der Technikcharakterisierung und die Perspektive des rekursiven Lernens in Realexperimenten – vorgestellt und am Beispiel der drei Forschungsfelder Grüne Gentechnik Fracking und Meeresdüngung mit Eisen illustriert. Die Beispiele zeigen, wie Nichtwissen analysiert und bewertet und wie in einer demokratischen Gesellschaft verantwortlich mit den Herausforderungen durch auftretendes Nichtwissen umgegangen werden kann.

Eine kurze Übersicht über die Inhalte der Berichtskapitel und die abgeleiteten Aspekte einer guten Governance bei explorativen Experimenten findet sich auf der Projektseite, eine kompakte Zusammenfassung ist dem Bericht vorangestellt.

Hintergrund
Agnotologie: Die Wissenschaft vom Nichtwissen
Stichwort Nichtwissen im IZgMF-Forum

Umgang mit Nichtwissen als gesellschaftliche Herausforderung

Schutti2, Freitag, 24.03.2023, 16:18 (vor 371 Tagen) @ Gast

Madame Curie hätte das Radium nicht entdeckt, hätte es damals schon eine Strahlenschutzverordnung gegeben.

Smoking is one of the leading causes of statistics.
(Fletcher Knebel)

Nichtwissen als Mittel zur Desinformation missbrauchen

H. Lamarr @, München, Sonntag, 26.03.2023, 13:49 (vor 369 Tagen) @ Schutti2

Madame Curie hätte das Radium nicht entdeckt, hätte es damals schon eine Strahlenschutzverordnung gegeben.

Smoking is one of the leading causes of statistics.
(Fletcher Knebel)

Im März 2003 erschien ein Buch mit dem besorgniserregenden Titel "Mobilfunk: Ein Freilandversuch am Menschen". Die Autoren, zwei Journalisten, begründeten damals den bis heute lebendigen Volksglauben (Narrativ) von der gesellschaftlich unverantwortlichen Verbreitung des Mobilfunks, dessen Risiken zuvor angeblich nicht hinreichend erforscht wurden. Mit der Einführung von 5G erlebte dieser Volksglaube eine neue Blüte, diesmal waren es die neuen Trägerfrequenzen der 5G-Technik, deren Wirkung auf Menschen angeblich zuvor nicht gründlich genug erforscht wurden.

Mobilfunkgegner aller Coleur ritten diesen Gaul, um in der Bevölkerung irrationale Ängste gegenüber 5G zu verfestigen. Das "Nichtwissen" wurde den Leuten nicht als logisches Dilemma der wissenschaftlichen Forschung an der Schwelle zu Massenmärkten verkauft, welches sich erst mit der explorativ beobachteten breiten Einführung einer neuen Technik beseitigen lässt, sondern zur Verankerung eines weiteren Narrativs missbraucht, "die da oben" (Politik, Industrie, Wissenschaft) hätten sich aus purer Profitgier zur gesundheitlich riskanten Verstrahlung der eigenen Bevölkerung verschworen.

Da Nichtwissen landläufig als selbst verschuldeter Mangel an Wissen gesehen wird, war die Anti-Mobilfunk-Szene mit ihrem Narrativ leidlich erfolgreich. Niemand hielt mWn dagegen, dass Nichtwissen zwangsläufig auftreten muss, wenn etwas Neues, das im Labor als unbedenklich eingestuft wurde, massenhaft auf den Markt kommt. Da kann selbst ein mit Studien nicht aufzuspürender winziger Risikozuwachs z.B. bei der fünften Nachkommastelle noch gut und gerne ein paar tausend Menschen treffen und es ist zu klären, ob dies gesellschaftlich so hingenommen werden kann wie die Anzahl der Verkehrstoten pro Jahr. Aus meiner Sicht ist die Publikation des TAB daher überfällig gewesen, um der Anti-Mobilfunk-Szene eines ihrer ältesten Desinformationswerkzeuge wegzunehmen.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Framing: Bild dir nicht deine, sondern meine Meinung

H. Lamarr @, München, Sonntag, 26.03.2023, 14:26 (vor 369 Tagen) @ H. Lamarr

[...] Ein Freilandversuch am Menschen [...]

Das ist Framing!

Auch Begriffe wie "Mobilfunkstrahlung" (statt z.B. Funkfelder) oder "Strahlenbelastung durch Mobilfunk" (statt z.B. Mobilfunkeinwirkung) sind Framing. Mobilfunkgegner nutzen Framing besonders gerne, um im Plauderton unbelegte Behauptungen als alarmierende Tatsachen zu verpacken, z.B. so:

Immer mehr Personen in der Schweiz sind durch Elektrosmog, insbesondere Mobilfunkstrahlung, belastet.

Was ist Framing?

ChatGPT bringt den Begriff, zu dem mir kein gleichwertiges deutsches Wort einfallen mag, mMn nach treffend und einprägsamer als die Techniker Krankenkasse :-) auf den Punkt:

Das Framing beschreibt die Art und Weise, wie Informationen präsentiert werden, um die Wahrnehmung und Interpretation der Empfänger zu beeinflussen. Es geht dabei um die Auswahl bestimmter Worte, Bilder, Symbole oder Themen, um eine bestimmte Botschaft zu vermitteln oder ein bestimmtes Verständnis zu erzeugen. Das Ziel des Framings ist es, die Aufmerksamkeit des Publikums zu lenken und eine bestimmte Sichtweise oder Meinung zu fördern oder zu verstärken. Oft wird das Framing von politischen Akteuren oder Medien genutzt, um die öffentliche Meinung in eine bestimmte Richtung zu lenken.

Eingedeutschte Umschreibungen mit "Rahmen" halte ich für wenig zielführend, da, wenn überhaupt, im Kopf die eher nutzlose Assoziation des harmlosen Bilderahmens auftaucht. Framing aber ist nicht harmlos, sondern manipulativ. Deshalb scheint mir anstelle von "Rahmen" der "Zaun" die bessere Alternative zu sein: Bis hierher darfst du selber denken, drüber hinaus nicht. Der unvoreingenommene in alle Richtungen freie Denkprozess wird eingezäunt. Für mildes Framing könnte so der Gartenzaun herhalten, für aggressives der Stacheldraht- oder Elektrozaun :-).

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– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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