Taufliegen: keineswegs dumm wie ein Stück Brot (Forschung)

H. Lamarr @, München, Montag, 04.04.2022, 12:53 (vor 725 Tagen)

Drosophila melanogaster aus der Gattung der Taufliegen gehört zu den am besten erforschten Organismen der Welt. Auch in Mobilfunkstudien waren sie schon Probanden. Das Gehirn der keine drei Millimeter großen Obst-Mitesser passt mühelos in ein Kügelchen mit einem Kubikmillimeter Volumen. Dennoch vollbringen Taufliegengehirne Dinge, die wir normalerweise nur Säugetieren zutrauen. Einer neuen Studie zufolge sind die Winzlinge unter den Insekten mit Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis und Bewusstsein ausgestattet.

Können das Gehirn einer Taufliege und das eines Menschen Gemeinsamkeiten haben? Unser erster Impuls ist, über diese Vorstellung zu lachen, denn schließlich vergleichen wir unser hoch entwickeltes menschliches Gehirn mit dem eines winzigen Insekts. Die Wahrheit lautet jedoch, dass die Tiergehirne ganz unabhängig von ihrer Größe sehr ähnlich funktionieren. Erst kürzlich wurde ein weiterer Beweis dafür in einer vom EU-finanzierten Projekt HBP SGA3 unterstützten Studie erbracht.

Der in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlichte Artikel verdeutlicht uns, dass Taufliegen (Drosophila melanogaster) über weitaus fortgeschrittenere kognitive Fähigkeiten verfügen, als es die Wissenschaft bisher für möglich hielt. Die Forschenden erkannten, dass Taufliegen über Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis und Bewusstsein verfügen. Diese Fähigkeiten bringen wir normalerweise nur mit Säugetieren in Verbindung. Mithilfe einer Kombination aus Verhalten in der virtuellen Realität bei neurogenetischen Manipulationen und In-vivo-Gehirnbildgebung beobachtete das Team die Bildung, Ablenkbarkeit und das letztendliche Verblassen einer Gedächtnisspur in Taufliegengehirnen.

„Ungeachtet offensichtlich fehlender anatomischer Ähnlichkeiten spricht diese Forschung unsere alltäglichen kognitiven Funktionen an – das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten und wie wir das tun“, erklärt der Erstautor der Studie, Prof. Ralph Greenspan vom Kavli Institute for Brain and Mind (KIBM) an der University of California, San Diego, in einer auf der Website der Universität veröffentlichten Presseerklärung. „Da sich alle Gehirne aus einem gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben, können wir auf der Grundlage molekularer Merkmale sowie der Art und Weise, wie wir unsere Erinnerungen speichern, Zusammenhänge zwischen Gehirnregionen von Fliegen und Säugetieren herstellen.“

Auf dem Spielfeld der virtuellen Realität
Zur Untersuchung des Verhaltens der Taufliege bauten die Forschenden eine immersive virtuelle Umgebung auf, die aus einer Panorama-Arena zur visuellen Stimulation und einem Infrarotlaser bestand, der als aversiver Wärmereiz diente. Die Fliegen waren fixiert, konnten jedoch frei mit ihren Flügeln schlagen. Eine permanent aktualisierte virtuelle Realität unter Einsatz von für maschinelles Sehen geeigneten Echtzeitkameras, welche die Flügelbewegungen der Fliegen verfolgten, vermittelte ihnen die Illusion des Fliegens ohne jegliche Einschränkung.

Die Forschenden stellten den Fliegen Konditionierungsaufgaben, bei denen sie sich entweder von einem mit einem unerwünschten Wärmereiz assoziierten Bild (einem aufrechten T) weg oder zu einem anderen, nicht mit Wärme verbundenen Bild (einem umgekehrten T) hin orientieren sollten. Es wurden zwei Arten der Konditionierung getestet: „verzögerte Konditionierung“ und „Konditionierung auf der Gedächtnisspur“ . Bei der verzögerten Konditionierung überschnitten sich die visuellen Reize zeitlich und endeten zusammen mit der Wärmeeinwirkung. Bei der die Spur betreffenden Konditionierung wurde die Wärme 5 bis 20 Sekunden nach dem Zeigen und Entfernen des visuellen Reizes verabreicht. In der Zwischenzeit behielten die Fliegen eine Spur des visuellen Reizes in ihren Gehirnen.

Anhand der in Echtzeit stattfindenden Nachverfolgung der Kalziumaktivität konnte das Team die Bildung und Dauer der lebenden Erinnerungen der Fliegen aufzeichnen. Erfolgte eine Ablenkung in Form eines leichten Luftstoßes, verblasste die visuelle Erinnerung im Gehirn der Fliegen schneller.

„Mit dieser Arbeit wird nicht nur nachgewiesen, dass Fliegen zu dieser höheren Form der Konditionierung auf der Gedächtnisspur fähig sind und dass sie genau wie Säugetiere und Menschen vom Lernen abgelenkt werden können, sondern auch, dass die diesen Aufmerksamkeits- und Arbeitsgedächtnisprozessen bei der Fliege zugrunde liegenden neuronalen Aktivitäten eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit denen von Säugetieren zeigen“, erklärt der ebenfalls am KIBM tätige Hauptautor der Studie, Dr. Dhruv Grover. „Diese Arbeit führt vor Augen, dass die Taufliege als ein leistungsfähiges Modell für die Erforschung höherer kognitiver Funktionen dienen kann. Einfach ausgedrückt: Die Fliege verblüfft uns immer wieder durch ihre Intelligenz.“ Das Projekt HBP SGA3 (Human Brain Project Specific Grant Agreement 3) endet 2023.

Quelle: Taufliegen: winzig, aber verblüffend intelligent

Hintergrund
HBP-SGA3-Projektwebsite

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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