Elektrosmog: Risikosicht hauptsächlich vom "Hören-Sagen" (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Mittwoch, 28.04.2021, 20:15 (vor 1088 Tagen)

Warum sind Mobilfunkgegner seit bald 30 Jahren eine "Bewegung", die nicht vorwärts kommt, sondern paradoxerweise auf der Stelle tritt? Der Gründe gibt es viele, sie prägnant auf den Punkt zu bringen ist nicht einfach. Was die Schweizer Anti-Mobilfunk-Szene anbelangt, ist dies dem Forschungsinstitut GFS Bern aus meiner Sicht gut gelungen. Mobilfunkgegner verharren, weil die Bevölkerung die erdrückenden Vorteile der Mobilfunktechnik genießt und die kolportierten gesundheitlichen Bedenken mehrheitlich nicht erlebt, sondern nur vom Hören-Sagen kennt.

Hier die Zusammenfassung aus dem 16-seitigen Schlussbericht von GFS Bern, veröffentlicht im September 2020. Das Institut hatte im Auftrag der PR-Agentur Furrerhugi, die auch das Portal chance5G.ch betreibt, 1006 Schweizer*Innen nach ihrer Sicht auf Mobilfunk befragt.

Vier Erkenntnisse beschreiben die aktuelle Wahrnehmung der Schweizer Stimmberechtigten in Bezug auf Mobilfunktechnologie und 5G hauptsächlich:

Vorteilssicht dominiert Einstellung zum Mobilfunk: Grundsätzlich sehen die Schweizer Stimmberechtigten in der Mobilfunktechnologie deutlich mehr Vorteile als Nachteile. Diese Vorteilssicht hat in den letzten 17 Jahren sichtbar an Sukkurs [Beistand, Anm. Postingautor] gewonnen. Sie wird hauptsächlich alimentiert durch einen Nutzen der Technologie im eigenen Alltag als Treiber der Vorteilssicht und gesundheitlichen Befürchtungen als Treiber der Nachteilssicht.

Gesundheitliche Risikosicht hauptsächlich vom "Hören-Sagen": Bemerkenswerterweise entsteht diese klare Vorteilssicht trotz einer sehr breiten Wahrnehmung gesundheitlicher Risiken. Dies hat hauptsächlich damit zu tun, dass die Vorteile im eigenen Alltag direkt erlebt werden, während die gesundheitlichen Nachteile für den grössten Teil der Bevölkerung auf "Hören-Sagen" beruhen und damit im eigenen Alltag nicht die gleiche Relevanz zu entfachen vermögen wie die Vorteile.

5G-Technologie genießt Vorschussvertrauen: Bemerkenswert hoch ist schon jetzt die Wahrnehmung der 5G-Technologie. Auch wenn der grösste Teil der Bevölkerung von diesem Technologiesprung noch nicht direkt profitiert, scheint man sich breit dafür zu interessieren, wobei das Interesse aktuell hauptsächlich auf Chancen durch zusätzlichen Nutzen fokussiert. Auf dieser Basis entsteht dann auch ein Bild der Technologie, welches Vorteile vor Nachteile stellt, wenn auch sichtbar weniger deutlich, als wir dies bei der Einschätzung gegenüber der Mobilfunktechnologie generell beobachten. Der aktuell fehlende Nutzen im Alltag führt augenscheinlich zu einer leicht vorsichtigeren Beurteilung der 5G-Technologie.

Insgesamt überwiegen damit bei der Mobilfunktechnologie die Vorteile, was sich in Form von Vorschusslorbeeren auch auf die 5G-Technologie überträgt. Da sich aber gerade bei dieser neuen Technologie für den grössten Teil der Bevölkerung noch kein konkreter Nutzen im eigenen Alltag abzeichnet, erstaunt es nicht, dass das Wohlwollen weniger weit geht, als bei der generellen hochetablierten Mobilfunktechnologie. Die gesundheitliche Diskussion gibt es sichtbar, es gab diese aber auch schon zu Beginn der Mobilfunkdebatte. Das Dilemma "direkt erlebter Nutzen versus gesundheitliche Risiken vom Hören-Sagen" ist bei Mobilfunk ein altes Dilemma, dass sich in der Vergangenheit immer sehr deutlich zu Gunsten der Technologie aufgelöst hat. Es wird für die weitere Entwicklung der Einstellungen eine zentrale Rolle spielen, wie rasch konkrete Anwendungen im Alltag spürbar werden und damit die Risikoaspekte sehr konkret kontrastieren können.

Rezeption der Umfrage durch den Zürcher Verein "Schutz vor Strahlung"

Den Schweizer Anti-Mobilfunk-Verein "Schutz vor Strahlung" brachten die Umfrageergebnisse von GFS Bern in Not. Einerseits versucht er mit seiner Rezeption die Umfrage zu entwerten, indem er die Mobilfunkindustrie als Auftraggeber identifiziert, andererseits erfreut sich der Verein an dem (angeblichen) Ergebnis, "sieben Prozent – das sind 600’000 Personen – hätten gesundheitliche Auswirkungen von Mobilfunk in der Schweiz selber schon erlebt". Zudem reklamiert "Schutz vor Strahlung" diverse Fehler in dem Schlussbericht.

Wer im Glashaus sitzt, sollte sich mit Steinwürfen allerdings zurück halten. Wegen zahlloser schlechter Erfahrungen mit Angaben von Mobilfunkgegnern habe ich geprüft, ob die behaupteten 600'000 Personen zutreffend sind. Und: Nein, sie sind es nicht. Denn 2020 gab es in der Schweiz 5'488'371 Stimmberechtigte (und nur solche wurden von GFS Bern auch befragt), davon sieben Prozent sind rd. 384'000 Personen. Fehlerursache: Der Verein hat fälschlich mit der Gesamtbevölkerung der Schweiz gerechnet.

Selbst wenn der Verein richtig gerechnet hätte, halte ich die Aussage von sieben Prozent, welche gesundheitliche Risiken der Mobilfunktechnik selbst erlebt haben wollen, für unspektakulär, weil zu undifferenziert. "Schutz vor Strahlung" will den irreführenden Eindruck erwecken, in der Schweiz gäbe es mehrere hunderttausend Elektrosmog-Betroffene, wie sie uns die Medien exemplarisch gerne im Sommerloch präsentieren. Eine solche Interpretation gibt die Umfrage wegen der undifferenzierten Fragestellung jedoch nicht her. Denn "Betroffene" könnten Personen mit selbst diagnostizierten belanglosen Scheinsymptomen sein (z.B. warmes Ohr nach Dauertelefonat) bis hin zu selbst diagnostizierten schwer "elektrosensiblen" Personen (die z.B. zum Schutz vor Funkstrahlung in Höhlen leben). Beide Extreme sind unvereinbar und können daher mMn nicht über einen Kamm geschoren werden.

Tipp: Angaben von organisierten Mobilfunkgegnern nie vertrauen, sondern immer gründlich prüfen. Gute Trefferquoten für Falschmeldungen sind garantiert.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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