Grenz- und Vorsorgewerte, die Probe auf's Exempel (Allgemein)

Alexander Lerchl @, Freitag, 10.12.2010, 17:11 (vor 4857 Tagen)

Die folgende wahre Geschichte hat sich kürzlich ereignet. Ich habe nur den Namen der Stadt und des Bundeslandes "anonymisiert".

In der Stadt X im Bundesland Y soll eine Bahnstrecke elektrifiziert werden. Eltern, die sehr nahe an der Trasse ein Haus haben, machen sich Sorgen wegen der magnetischen Felder, da sie die Studien zu Kinderleukämie und Magnetfeldern > 0,3 bzw. > 0,4 µTesla kennen.

Ein detailliertes Gutachten wurde erstellt. Dieses weist zunächst aus, dass die Grenzwerte der 26. BImSchV bei 16 2/3 Hz (300 µT) nirgends überschritten werden. So weit, so gut.

Aber: Das Bundesland hat vor Jahren Vorsorgeempfehlungen gegeben, die bei der Planung "umgesetzt" werden "sollten", genannt wurde ein Wert von 0,3 µT.

Das Gutachten weist Korridore aus, in denen dieser Vorsorgewert überschritten wird. Diese Korridore sind je nach Ort (Bahnlänge) unterschiedlich breit, bis zu etwa 20 Meter links und rechts der Trasse. Das Haus der Familie liegt in dem Korridor.

Die Stadt lehnt ab, die Vorsorgeempfehlungen umzusetzen und verweist auf die Gesetzeslage (26. BImSchV). Die Empfehlungen seien "nicht bindend". Die Familie denkt daran, das Haus zu verkaufen.

Jetzt frage ich mich, warum solche Empfehlungen in die Welt gesetzt werden, wenn sie in der Praxis dann doch keine Bedeutung haben. Oder anders gefragt: Sind solche politischen Beruhigungspillen nicht in Wahrheit Gift für das Verhältnis von Bürgern und Politikern?

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"Ein Esoteriker kann in fünf Minuten mehr Unsinn behaupten, als ein Wissenschaftler in seinem ganzen Leben widerlegen kann." Vince Ebert

Tags:
Vorsorgewert, Grenzwert, Vorsorge, Vorsorgeempfehlung

Grenz- und Vorsorgewerte, die Probe auf's Exempel

Roger @, Freitag, 10.12.2010, 17:51 (vor 4857 Tagen) @ Alexander Lerchl

Das kommt halt raus wenn die Stadt sich durch "schlängeln" will , anstatt "klare Kante" auf zu zeigen .

Grenz- und Vorsorgewerte, die Probe auf's Exempel

helmut @, Nürnberg, Freitag, 10.12.2010, 18:13 (vor 4857 Tagen) @ Alexander Lerchl

...... Die Familie denkt daran, das Haus zu verkaufen.


Hatten wegen der Antenne auf meinem Hausdach auch einige angekündigt aber leider nicht wahrgemacht.

Telefonierten auch damals schon alle mit DECT und Handy

MfG
Helmut

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In der Mobilfunk-BI und
"In der Abendsonne kann selbst ein kleiner Zwerg große Schatten werfen" (frei nach Volker Pispers)


Meine Kommentare sind stets als persönliche Meinungsäußerung aufzufassen

Grenz- und Vorsorgewerte, die Probe auf's Exempel

H. Lamarr @, München, Freitag, 10.12.2010, 19:59 (vor 4857 Tagen) @ Alexander Lerchl

Jetzt frage ich mich, warum solche Empfehlungen in die Welt gesetzt werden, wenn sie in der Praxis dann doch keine Bedeutung haben. Oder anders gefragt: Sind solche politischen Beruhigungspillen nicht in Wahrheit Gift für das Verhältnis von Bürgern und Politikern?

Aus meiner Sicht ist alles, was sich als wirkungslos herausstellt (Steuersenkung, Grenzwertsenkung, Medikament, Rehabilitation ...) Gift fürs Vertrauensverhältnis des Betroffenen zu XYZ.

Wir hatten kürzlich auf eine Arbeit von Röösli zur Risikokommunikation verlinkt, in der die Schattenseite von Vorsorgemaßnahmen deutlich wurde. Dort heißt es u.a.:

Wiedemann und Kollegen konnten unter experimentellen Bedingungen nachweisen, dass die Nennung von Vorsorgemaßnahmen zu einer höheren Besorgnis führte (Wiedemann et al. 2005, 2006). In diesen Experimenten interpretierten die Versuchsteilnehmenden die Nennung von Vorsorgemaßnahmen als Hinweis für ein vorhandenes Risiko. Der Nachteil einer solchen experimentellen Anlage besteht aber darin, dass der potenzielle Nutzen des Vorsorgeprinzips, nämlich die verbesserte Immissionssituation, ausgeklammert wird.
Eine Expositionsverminderung könnte sich in einer Verminderung der Besorgnis äußern, allenfalls indirekt durch eine Steigerung des Vertrauens in die Behörden. Ein Indiz dafür findet sich in einer schweizerischen Studie, bei der Befragte, welche die strengere Gesetzgebung der Schweiz im Vergleich zu Europa kannten, weniger besorgt waren als Befragte, denen dies unbekannt war (Siegrist et al. 2005a).

Dass die Familie in Kenntnis der 0,4 µT Magnetfeld Angst hat ist mMn nichts anderes als die Bürger, die z.B. wegen 100 µW/m² Mobilfunk ins Schwitzen kommen. In beiden Fällen gibt es gravierende Unterschiede zwischen erlaubten Werten (Grenzwerten) und von mehr oder weniger kompetent empfohlenen Vorsorgewerten. Den besorgten Bürger zerreißt es in diesem Potenzialgefälle, woher soll er auch wissen, wem er trauen soll. Nicht mal ich selber könnte ja eine plausible Erklärung dafür bringen, wieso die 0,4 µT, die ja seriös schon vor knapp 10 Jahren für 50-Hz-Felder ermittelt wurden, sich bis heute nicht im Geringsten auf den 100-µT-Grenzwert ausgewirkt haben. Da klappt mMn mit der Kommunikation was nicht, den Elfenbeinturm gibt's nicht mehr, in Zeiten des Internets ist der aus Glas und draußen stehen Leute (Bürger), die mit reingucken. Die aber werden von drinnen eher nicht wahrgenommen, finden (komfortabel) keine "amtlichen" Ansprechpartner und fallen dann zwangsläufig selbsternannten Experten in die Hände, die ihnen den bekannten Drall geben. Wenn demnächst der von der EU geplante Ausbau der Energieversorgungsnetze stattfindet und die ICNIRP zugleich rechtzeitig den Grenzwert von 100 auf 200 µT hoch setzt, dann muss man kein Prophet sein, um vorauszusehen, über was in zwei, drei Jahren in Turnhallen referiert und erbittert gestritten wird.

Letztlich könnte das orientierungslose Herumtappen der Bürger (Stichwort: Ziehung der Grenzwertforderungen) sogar für Politiker zutreffen wenn ich mir das Theater mit Jo Leinen so überlege oder lese, dass Dr. Warnke (angeblich) kürzlich vor dem Europarat einen Vortrag halten durfte. Sowas wird in den Netzwerken und Rundmailern als News vermarktet und wirft, obwohl klein, lange Schatten, die auch von Politikern gesehen werden und Begehrlichkeiten (Wählerstimmen) wecken.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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Risikokommunikation, Wiedemann, Europarat

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