Warum schießen sich "Elektrosensible" so gerne selbst ins Knie? (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Samstag, 02.07.2022, 13:50 (vor 636 Tagen)

Warum schießen sich EHS-Betroffene und Aktivisten immer wieder selbst ins Knie?

Diese Lektion habe ich bereits 1999 gelernt: Ein Großteil der EHS-Aktivisten akzeptiert und billigt die Meinung der Wissenschaft zu EHS nur dann, wenn sie zu 100 Prozent mit ihrer eigenen Meinung übereinstimmt.

EHS-Aktivisten glauben mit Sicherheit zu wissen, dass EHS durch EMF verursacht wird, dass der wissenschaftliche Beweis bereits in zahlreichen von Experten begutachteten Studien veröffentlicht wurde, dass es bekannte Biomarker für EHS gibt und dass die Diagnose von EHS objektiv durchgeführt werden kann. EHS-Aktivisten wissen dies alles zweifelsfrei, und wenn jemand dieser Meinung nicht zu 100 Prozent zustimmt, ist er/sie ein Feind der EHS-Betroffenen.

Das Problem ist, dass militante EHS-Aktivisten, die mit solchen unbewiesenen Behauptungen hausieren gehen, das Leiden der echten EHS-Betroffenen verlängern, indem sie die Argumente zugunsten wissenschaftlicher Forschung schwächen.

Ich habe nie verstanden, warum EHS-Aktivisten so vehement gegen die verfügbaren wissenschaftlichen Beweise vorgehen und sich auf diese Weise ins eigene Knie schießen. Wenn EHS-Aktivisten ständig und hartnäckig behaupten, dass EHS in der veröffentlichten, von Experten begutachteten wissenschaftlichen Literaturt bereits zweifelsfrei bewiesen ist, machen sie sich selbst zum "Gespött".

► Sie machen es leicht, ihre Behauptungen zurückzuweisen.
► Sie machen es leicht, den Bedarf an neuer Forschung zu verwerfen.
► Sie machen es leicht, als psychisch Kranke angesehen zu werden.
► Sie schießen sich selbst ins Knie.

Die veröffentlichten wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen EMF-Expositionen und EHS-Symptomen sind von schlechter Qualität, unzuverlässig und beweisen weder, dass EHS durch EMF-Expositionen verursacht wird, noch das Gegenteil.

Zu diesem Schluss kam ich in meiner kürzlich veröffentlichten Übersicht über zahlreiche bisherige EHS-Studien.

In meiner Übersichtsarbeit behaupte ich, EHS existiere (ich bin fest davon überzeugt), dass wir aber eine qualitativ bessere Forschung benötigen, um diese Einschätzung zu beweisen. Das aber war den EHS-Aktivisten nicht genug. Ich stimmte nicht zu 100 Prozent mit ihnen überein, dass die Existenz von EHS "über jeden vernünftigen Zweifel erhaben" ist. Als Reaktion auf meine EHS-Review hat Michael Bevington, Vorsitzender des Vereins Electrosensitivity UK, London, (http://www.es-uk.info/) einen Kommentar veröffentlicht:

"Proof of EHS beyond all reasonable doubt". Kommentar zu: Leszczynski D. "Review of the scientific evidence on the individual sensitivity to electromagnetic fields (EHS)". Rev Environ Health 2021; doi: 10.1515/reveh-2021-0038. Online vor dem Druck

In diesem Kommentar pickt sich Bevington Zitate aus meiner Review heraus, die zu seiner Darstellung passen, und lässt alles weg, was nicht passt.

Der Kommentar beginnt mit zwei Sätzen, die einige der Schlussfolgerungen aus meiner Review zitieren, welche verständlicherweise gut in die Denkweise von EHS-Aktivisten passen:

Leszczynskis Review [1] enthält zwei wichtige Schlussfolgerungen. Erstens, die Notwendigkeit für WHO, ICNIRP, ICES und Regierungsorganisationen, ihre Leugnung des Zusammenhangs zwischen EHS und elektromagnetischen Feldern (EMF) zu revidieren, da die vorliegenden Daten von unzureichender Qualität sind, um das Fehlen einer Kausalität zu beweisen. Zweitens sollte sich die Forschung, anstatt einen Nocebo-Effekt zu untersuchen, darauf konzentrieren, "geeignete biochemische und biophysikalische Marker" für die Symptome von EHS-Personen zu finden.

Der dritte und vierte Satz des Kommentars gehen jedoch zu 100 Prozent auf das Mantra der EHS-Aktivisten ein:

In der Review heißt es jedoch auch: "Bisher konnten die Wissenschaftler keinen kausalen Zusammenhang zwischen den Symptomen empfindlicher Personen und der Exposition gegenüber EMF feststellen". Diese umfassende Behauptung scheint nicht alle wissenschaftlichen Beweise widerzuspiegeln.

...und welche wissenschaftlichen Beweise werden herangezogen, um einen endgültigen Beweis für einen kausalen Zusammenhang zwischen EHS und EMF zu erbringen? Es überrascht nicht, dass es sich neben einigen anderen auch um Forschungsergebnisse der Gruppe von Dominique Belpomme in Frankreich handelt:

Spezifische EHS-Symptome wurden ab 1932 in Osteuropa und der UdSSR festgestellt, in der Regel bei Personen, die beruflich exponiert waren, wie Radartechniker, Funktechniker oder Starkströmler. Als sich EHS mit der Nutzung von Mobiltelefonen, W-Lan und intelligenten Verbrauchszählern in der Bevölkerung ausbreitete, untersuchten spezialisierte EHS-Zentren, wie das von Professor Dominique Belpomme in Paris, eine größere Anzahl von Personen. Im Jahr 2015 veröffentlichte er die erste umfassende Studie über objektive molekulare Biomarker, einschließlich zerebraler Blutperfusions-Scans, die zeigen, dass EHS eine multisystemische EI ist, ähnlich wie chemische Sensibilität.

...und weiter:

Im Jahr 2021 forderte Belpomme unter der Leitung von 32 internationalen Experten, dass die WHO EHS als eigenständige neuropathologische Störung anerkennt und in ihre Internationale Klassifikation der Krankheiten aufnimmt...

Bevington unterschlägt völlig und bequemerweise die Tatsache, dass Belpommes Studien in meiner EHS-Review stark kritisiert wurden. Die Studien von Belpomme zeigen nichts und sie beweisen nichts. Die von Belpomme und seinen Mitarbeitern vorgelegten Daten sind unvollständig und die Schlussfolgerungen beruhen nicht auf den vorgelegten Daten, sondern auf "Wunschdenken". Es tut mir leid, das so hart zu sagen, aber das ist eine Tatsache. Es handelt sich um sehr schlechte Wissenschaft.

Diese Art von wissenschaftlichen Beweisen, wie sie von der Forschungsgruppe von Belpomme in Frankreich vorgelegt wurden, sind völlig unzureichend für die Klassifizierung von EHS als "ausgeprägte neuropathologische Störung". Das ist keine Wissenschaft, das ist Augenwischerei.

[...]

So weit, so gut.

Doch wer bitteschön ist der Autor der treffenden Ausführungen oben, deren Original vom August 2021 datiert? Insider werden es schon am Inhalt erkannt haben, allen anderen sei der finnische Wissenschaftler Dariusz Leszczynski als Autor vorgestellt. Wer's nicht glauben mag, hier geht's zum Original. Mit seiner kritischen Haltung gegenüber restlos überzeugten EHS und einer Handvoll diesen zugetaner Wissenschaftler gewinnt der Finne mMn an Glaubwürdigkeit. Andererseits dürfte eben diese Haltung der wesentliche Grund sein, dass Leszczynskis inzwischen angelaufenes EHS-Forschungsprojekt von großen Teilen der hiesigen Anti-Mobilfunk-Szene boykottiert wird. Mit dem Boykott sorgt die Szene für den Fall vor, dass auch dieses Projekt zu dem Ergebnis kommt, EHS sei eine psychische Fehlfunktion der Betroffenen. Dann lässt sich triumphierend geltend machen, man habe ja von Anfang an gewusst, das Projekt tauge nichts. Sollte der Finne jedoch tatsächlich eindeutige Biomarker finden, mit denen sich EHS objektiv nachweisen lässt, wird die Szene dieses Resultat als historischen Durchbruch frenetisch feiern und ihren Boykott innerhalb von Millisekunden unter den Teppich kehren. Mit ihrem abstoßenden Opportunismus hält sich die trickreiche Szene alle Möglichkeiten offen, um ihrem Untergang zu entgehen :no:.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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