Das wusste 1999 die Bundesregierung über MCS (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Donnerstag, 16.03.2017, 18:28 (vor 2569 Tagen)

Mit einem Sondergutachten informierte der Rat der Sachverständigen für Umweltfragen 1999 die deutsche Bundesregierung. Über MCS ist in diesem Gutachten erstaunlich viel zu finden, über "Elektrosensibilität" oder "Elektrosmog" hingegen nichts. Dies lässt den Schluss zu, dass 1999 das Wühlen selbsternannter Interessenvertreter der "Elektrosensiblen" auf politischem Parkett noch nicht als nennenswert wahrgenommen wurde. Seither sind rund 17 Jahre vergangen, substanziell geändert hat sich an der vertrackten Lage der "Elektrosensiblen", die Spinner der Nation zu sein, nichts. Doch auch die MCS-Kranken sind ihrem Ziel der Anerkennung nicht näher gekommen.

Nachfolgend ein Auszug aus dem Sondergutachten, den 251 Seiten umfassenden Volltext gibt es <hier>:

Das ausgeprägte Umweltbewußtsein in der deutschen Bevölkerung hat dazu geführt, daß zahlreiche komplexe und häufig uncharakteristische Gesundheitsstörungen mit Umweltbelastungen in Zusammenhang gebracht werden. Es werden meist diffuse chronische Störungen physischer und psychischer Art beklagt, welche alle Organsysteme betreffen können. Bei den Betroffenen besteht ein hoher Leidensdruck. Die umfassende Form derartiger umweltbezogener Krankheitsbeschwerden wird als Multiple Chemikalien-Sensitivität (MCS) bezeichnet. Sie findet nicht nur in den Medien, sondern auch in der internationalen wissenschaftlichen Literatur zunehmend Beachtung. Die Zahl der in medizinischen und psychologischen Datenbanken abrufbaren Publikationen aus internationalen Zeitschriften mit begutachteten Beiträgen liegt inzwischen bei weit über 700. Dem an seiner Umwelt leidenden und kranken Menschen liegt eine klinische Problematik multipler, nicht objektivierbarer Gesundheitsbeeinträchtigungen mit weitgehend ungeklärter Ätiologie und Pathogenese zugrunde. Nach subjektiver Einschätzung der Betroffenen können die Beschwerden ursächlich auf den Einfluß von Umweltnoxen, besonders aus dem Innenraum- und Nahrungsmittelbereich, zurückgeführt werden. Als initiale Expositionsquellen werden insbesondere Parfüms, Pestizide, Lösungsmittel, Farben, Staub, Rauch, Automobilabgase, Lebensmittel(-zusatzstoffe) und Medikamente genannt.

Multiple Chemikalien-Überempfindlichkeit wird gegenwärtig als „ätiologisch und pathogenetisch weitgehend unklares Beschwerdebild/klinisches Phänomen/Syndrom multipler Gesundheitsbeeinträchtigungen“ aufgefaßt. Der Begriff beruht nicht auf der Definition einer eigenständigen klinischen Krankheitsentität, sondern ist als Falldefinition zu verstehen. Als Diagnosekriterien werden subjektive, nicht objektivierbare Beschwerdebilder herangezogen. Diese werden darüber hinaus in der Fachwelt nicht einheitlich gehandhabt.

Schlußfolgerungen und Empfehlungen
Der Umweltrat stellt fest, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein kausaler Zusammenhang zwischen Multipler Chemikalien-Überempfindlichkeit und vielfältigen Umwelteinflüssen, die von der Mehrheit der Bevölkerung gut vertragen werden, nicht wissenschaftlich belegt ist, jedoch auch nicht ausgeschlossen werden kann. Angesichts der unsicheren Datenlage, der Subjektivität der Beschwerden und des Fehlens eines einheitlichen klinischen Krankheitsbildes sind gesetzliche Regelungen selbst aus Gründen der Vorsorge gegenwärtig nicht angezeigt.

Bei der bestehenden Diskrepanz zwischen gesichertem Wissen über die Multiple Chemikalien-Überempfindlichkeit und öffentlicher Einschätzung von deren Bedeutung reklamiert der Umweltrat allerdings Forschungsbedarf auf der Grundlage guter wissenschaftlicher Praxis. Diese Forschung sollte insbesondere umfassen:

Der Umweltrat empfiehlt die Bildung eines multidisziplinären und unabhängigen Gremiums nach dem Vorbild des „Dokumentationszentrums schwerer Hautreaktionen in der Bundesrepublik Deutschland“. Dieses Gremium sollte vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) initiiert und auf Projektbasis finanziert werden. Ebenso könnte eine Mischfinanzierung, die verschiedene, im Bereich der Arzneimittelsicherheit engagierte Arzneimittelhersteller einschließt, erfolgen. Ein solches temporäres und unabhängiges Gremium könnte nach Auffassung des Umweltrates im Hinblick auf Fälle von Multipler Chemikalien-Überempfindlichkeit die Forschungsaktivitäten in Deutschland bündeln, wissenschaftlich begleiten und durch die Beurteilung aller anonymisierten Fälle nicht nur eine Klassifikation erarbeiten, sondern auch eine Brücke zwischen Schulmedizin und Ökologischer Medizin schlagen.

Unverkennbar ist die Diskrepanz zwischen dem außerordentlich starken Leidensdruck der Betroffenen und dem mangelnden Wissen um Natur und Ursache umweltbeeinflußter Unverträglichkeiten auf der Basis gesicherter naturwissenschaftlicher Verfahren. Die gegenwärtig öffentlich ausgetragene und emotional geführte Kontroverse, ob es sich bei Multipler Chemikalien-Überempfindlichkeit um eine körperliche Erkrankung handelt, die auf eine besondere Chemikalienexposition aus der Umwelt zurückzuführen ist, oder um eine seelische Störung, ist für den leidenden Menschen wenig hilfreich und trägt nicht zur Problemlösung bei, weder auf individueller noch auf kollektiver Ebene. Sie führt darüber hinaus zur weiteren Verunsicherung ohnehin besorgter Bevölkerungskreise. Deshalb ist eine Versachlichung der öffentlichen Diskussion erforderlich. In diesem Zusammenhang sind Maßnahmen zur Minderung von Umweltängsten in der Bevölkerung allgemein, etwa durch gezielte Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit, z. B. in Schule und Universität und bei betroffenen Zielgruppen einzufordern.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
MCS, Umwelterkrankung, Somatoforme Störung


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